Zen Sounds 033: »It’s not just an absence, it’s erasure«
Mit Musik von Tirzah, Nosaj Thing, Loraine James, Anja Lauvdal, Akai Solo und einer Re-Issue von Warps »Artificial Intelligence«
Tirzah: Gesundung, Dankbarkeit und neue Anfänge
Der Sub/kultur aus dem UK fühlte ich mich schon immer tief verbunden. Gerade war ich mal wieder für ein paar Tage in London – zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie und nach dem Brexit. Während dieses Aufenthalts habe ich die Musik von Tirzah für mich entdeckt. Sie begleitete mich auf zahlreichen Tube-Fahrten, in meinem Hotelzimmer in King’s Cross und auf regnerischen Spaziergängen am Regent’s Canal. Manchmal braucht es den richtigen Rahmen und den richtigen Moment, um Musik in der Tiefe zu begreifen.
Auch wenn es zu diesem Zeitpunkt längst zum Sprachklischee verkommen ist: Tirzahs Songs fungieren als sicherer Raum für sie selbst und ihre Hörer*innen. Ihr unprätentiöser Gesang trägt genau jene intime Qualität in sich, die Burial einmal als »girl next door vocals« bezeichnet hat; als würde man seiner Nachbarin in einem Plattenbau mit dünnen Wänden beim Singen unter der Dusche zuhören. Immer wieder verfällt die medienscheue Sängerin ins lautmalerische Summen oder Flüstern; manchmal setzt sie mitten in der Zeile zum Atmen an; nicht selten wird ihre Stimme von Effekten verfremdet.
Der Online-Shop Boomkat, der eine*n (oder mehrere) ausgezeichnete Review-Redakteur*innen beschäftigt, brachte es in der Rezension zu Tirzahs zweitem Album »Colourgrade« auf den Punkt: Jeder ihrer Songs fühlt sich wie eine persönliche, intime Erinnerung an. Dabei geht jedoch nie um plumpe Nostalgie. In der Phase, in der Tirzah das Album schrieb, wurde sie zweimal Mutter. Sie sagte einmal, es gehe darauf um den Prozess der Gesundung, um Dankbarkeit und neue Anfänge. Damit kann ich gerade viel anfangen.
Tirzah und ihre Produzentin Mica Levi, die sich seit Schulzeiten kennen, sind nicht so sehr an der glitzernden Oberfläche und an vermeintlicher Perfektion interessiert, sondern an künstlerischen Brüchen, an Dissonanz und den Reibungen, die sie erzeugt; insoweit sind sie kongeniale musikalische Partnerinnen. Levi ist nie damit beschäftigt, irgendwelche Genre-Formeln zu erfüllen. Sie sucht stets nach genuinem Ausdruck, jenseits von Phrasen und Plattitüden. Zusammen mit dem Musiker Coby Sey, der noch eine zweite, männliche Gesangsstimme in viele Songs einbringt, bilden sie auch live ein Trio, dem man die Spielfreude deutlich anmerkt.
Zu ihrem erweiteren Künstler*innenkreis gehören Tirzahs Ehemann, der Produzent und Songwriter Kwake Bass, aber auch Dean Blunt. Der mysteriöse »art-pop provocateur« hat auf Tirzahs zweitem Album »Colourgrade« einen Song produziert. Vor wenigen Tagen erschien zudem ein brandneuer Song von Dean Blunt unter seinem Babyfather-Alias namens »1471«, auf dem Tirzah ebenfalls auftaucht.
Nosaj Thing – »Continua« (LuckyMe, 2022)
Platt gesagt, kann man das neue Nosaj-Thing-Album »Continua« als Hommage an den Trip-Hop der 1990er-Jahre lesen. Als musikalische Einflüsse nennt der Produzent aus Los Angeles klassische Platten dieser Ära von UNKLE, Portishead und Massive Attack. Eine wichtige Referenz für die Stimmung des Albums war aber auch Godfrey Reggios zivilisationskritischer Experimentalfilm »Kooyanisqatsi« mit der Musik des Minimal-Komponisten Philip Glass.
»That film came out in 1982«, sagt Nosaj Thing in einem aktuellen Interview. »And I’m watching it every day. It’s crazy. Where’s today’s version of this? I was just looking for more because I’ve been watching it for so long.« Im selben Gespräch erzählt er, dass er während der Pandemie auch faktisch zum Minimalisten geworden sei, sich nämlich von fast der Hälfte seines Besitzes getrennt habe und in ein Loft in Downtown Los Angeles umgezogen sei. »I got to slow cook the record«, sagt er über die Arbeit an »Continua«.
Das Ergebnis klingt nicht retro, sondern zeitlos. Während Nosaj Thing in der Vergangenheit den Schwerpunkt auf Beats gelegt hat, sind diesmal vor allem Songs entstanden – durch die Verbindung von Live-Instrumentierung, Orchesteraufnahmen, cinematischen Breakbeats und Vocals von Gästen wie Coby Sey, Toro Y Moi, Pink Siifu oder Panda Bear. Nur zwei der 12 Stücke kommen ohne Feature aus.
Einer der bislang schönsten Songs des Jahres ist »Blue Hour« mit Julianna Barwick. Er erinnert mich an Massive Attacks »Teardrop«. Barwick kennt man als experimentelle Sängerin wortloser Stücke, hier habe ich sie zum ersten Mal überhaupt einen englischsprachigen Text singen hören. Auf Drumbreak und Synthie-Flächen breitet sich ihre ätherische Stimme ruhig, aber stetig aus. Der perfekte Soundtrack für einsame Herbstspaziergänge am Morgen oder Abend im Nieselregen, mit hochgeklapptem Funktionsjackenkragen.
Loraine James – »Building Something Beautiful For Me« (Phantom Limb, 2022)
Als Julius Eastman 1990 mit 49 Jahren in einem New Yorker Krankenhaus starb, war er drogensüchtig, obdachlos und pleite. Der Schwarze, homosexuelle Komponist war sein Leben lang vom Kulturbetrieb weitgehend ignoriert worden. Ich hatte Eastman auch nicht auf dem Schirm, bis mir ein Freund im letzten Jahr einen Link zu einer neuen Aufnahme seiner Komposition »Femenine« schickte. Zum Glück werden Eastmans Arbeiten in den letzten Jahren wiederentdeckt und aufgeführt.
Loraine James, selbst eine Schwarze, queere Londoner Musikerin, gesteht in einem Artikel für den »Guardian« , dass auch sie Eastmans Arbeiten kaum kannte, als das Label Phantom Limb mit der Idee zu diesem Album auf sie zukam:
»Pretty quickly I realised that I knew lots of his peers – people such as Philip Glass and Steve Reich – who I learned about when I was studying music. But I never got taught anything about Julius Eastman. He was a long-standing part of that New York scene, but for a long time I didn’t even know Black composers existed. It’s not just an absence, it’s erasure – it feels as though there was effort made to leave him out.«
James bekam eine Festplatte mit Stems von Eastman-Originalen von Julius’ Bruder Gerry zur Verfügung gestellt und konnte diese vollkommen frei bearbeiten und verwenden. Obwohl sie erst fünf Jahre nach Eastmans Tod geboren wurde und sein Werk bis zu diesem Moment nicht kannte, gehen die beiden über dieses Experiment miteinander in den Dialog. So entstand eine zutiefst persönliche Hommage.
In früheren Arbeiten verwendete James oft nervöse, Footwork-, Gqom- und Drum’n’Bass-inspirierte Rhythmen. Dieses Album erinnert mit seinen repetitiven, minimalistischen Synthie-Figuren, die an vielen Stellen frei und beatlos dahinschweben, eher an neuere Ambient-Projekte wie ihr großartiges »Whatever The Weather«-Album. Auch dank der intimen Vocals ist »Building Something Beautiful For Me« ein ausdrucksstarkes Album von einer der talentiertesten Musikerinnen unserer Zeit – und gleichzeitig eine Ehrung eines übersehenen Komponistengenies des späten 20. Jahrhunderts, denn hinter jedem Songtitel gibt James in Klammern das Eastman-Stück an, das ihren Song inspirierte.
Anja Lauvdal – »From a Story Now Lost« (Smalltown Supersound, 2022)
Allein bei Discogs sind 14 Gruppen aufgelistet, mit denen die norwegische Jazz-Pianistin und -Komponistin Anja Lauvdal in der letzten Dekade gespielt hat – und hier sind viele ihrer Duo- und Trio-Arbeiten nicht mitgerechnet. »From a Story Now Lost« ist ihr Debüt als Solokünstlerin. Als Produzentin verpflichtete sie dafür die experimentierfreudige Musikerin Laurel Halo. Die beiden teilen offenbar eine Vorliebe für die amerikanische Schriftstellerin Ursula K. Le Guin: Halo ließ sich für »Raw Silk Uncut Wood« von Le Guins Übersetzung des »Tao Te Ching« – des heiligen Buches des chinesischen Taoismus – inspirieren; Lauvdal verweist im Opener »Tehanu« auf einen Roman aus Le Guins Fantasy-Saga »Erdsee«.
Die zehn kurzen, abstrakten Stücke, die zusammen gerade mal eine halbe Stunde Musik ergeben, sind stimmungsvolle Vignetten, meist getragen von Klavier oder Synthesizer, verfremdet durch Effekte und Filter, angereichert mit Statik und weißem Rauschen. Wie jede interessante Kunst entzieht sich Lauvdals Musik der einfachen Interpretation. Die Küche in der Coverfotografie, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheint, gibt genau so wenig Aufschluss über die Hintergründe der Musik wie die Songtitel – immerhin ein Stück verweist im Titel auf Agathe Backer Grøndahl, eine norwegische Komponistin des späten 19. Jahrhunderts.
Auch was die transportierten Emotionen angeht, wird »From a Story Now Lost« selten eindeutig. Vielmehr kommt es darauf an, mit welcher Haltung und Stimmung man sich der Musik nähert. Gerade dieses Rätselhafte, Mehrdeutige, das sich in Lauvdals abstrakten, vernebelten Klavierklängen spiegelt, macht ihr Debütalbum so spannend. Ein Album, das ich tagelang auf Schleife gehört und in dem ich immer wieder etwas neues entdeckt habe.
Re-Issue Corner
V.A. – »Artificial Intelligence« (Warp, 1992/2022)
Ein Roboter in einem Sessel vor einer Stereoanlage, Rauchringe in die Luft blasend, Platten von Kraftwerk und Pink Floyd auf dem Boden verteilt. Die Musik auf der ersten Warp-Compilation »Artificial Intelligence« von 1992 war ein experimenteller Post-Bleep-Techno, der nicht zum Tanzen gemacht war. Es war Musik für uns, die Stubenhocker*innen, Slacker*innen und Zuhausebleiber*innen.
In seinem Ambient-Buch »Ocean Of Sound« berichtet David Toop von den »Telepathic Fish«-Parties in London. Sie begannen meist frühmorgens an freien Tagen und fanden in einer von Hausbesetzer*innen in Beschlag genommenen Gebäuderuine statt, in der überall Matratzen herumlagen. Es spielten Trommelgruppen und Didgeridoo-Duos, aber auch DJs wie Mixmaster Morris oder Matt Black von Coldcut. Es gab Projektionen und Lichtspiele, Seifenblasen flogen durch den Raum, Räucherstäbchen wurden angezündet. Zur Stärkung für die übernächtigten Raver*innen, Hippies und Freaks gab es indischen Tee und Käsebrote, die mit dem Schweizer Taschenmesser zubereitet wurden. Die Anfang des Jahres leider verstorbene Mira Calix, Mitorganisatorin von »Telepathic Fish«, beschrieb den Vibe folgendermaßen: »…lots of people chilling out in their bedrooms – the post-clubbing experience when everyone comes round and you play tunes…«
Einer der DJs, die dort häufig auflegten, war Alex Paterson. Auf »Artificial Intelligence« ist er mit dem Stück »Loving You Live« vertreten – einem Exzerpt von »A Huge Ever Growing Pulsating Brain That Rules From The Center Of The Ultraworld«, dem 19-minütigen Track von Patersons Band The Orb aus dem Jahr 1989. Es ist eine Bricolage im Stil des Sampling-Pops von Projekten wie M/A/R/R/S oder Bomb The Bass – allerdings ohne Drums, dafür voller Kirchenglocken, spiralförmiger Tangerine-Dream-Synthies und Minnie-Riperton-Samples. Paterson arbeitete damals bei dem Ambient-Label EG Records. Mit seinem Kollegen Jimmy Cauty von The KLF begann er, ruhige House- und Breakbeats mit Soundscape-Elementen von Ambient- und Krautrock-Platten zu verbinden. Ambient House war geboren.
»Artifical Intelligence« versammelte zum ersten Mal damals noch überwiegend unbekannte Künstler*innen wie Aphex Twin (alias The Dice Man), B12 (alias Musicology), Autechre und Richie Hawtin (alias Up!), die allesamt prägend für die kommende Dekade elektronischer Home-Listening-Musik werden sollten. Im selben Jahr würde Aphex Twin seine stilprägenden »Selected Ambient Works (85-92)« bei Warp veröffentlichen; eine Serie von Künstleralben unter dem »Artifical Intelligence«-Banner sollte folgen und 1994 schließlich ein zweiter Teil als Doppelalbum. Auf MTV war ein Jahr zuvor die »Chillout Zone« auf Sendung gegangen, wo psychedelische Computergrafikvideos zu elektronischen Musikstücken liefen. Ambient House und Ambient Techno waren jetzt offiziell »ein Ding« – auch wegen »Artificial Intelligence«.
Was für mich besonders überraschend beim Wiederhören des ersten Teils war: Die noch auf analogen Synthesizern und klassischen Drum Machines programmierten Tunes wirken kein bisschen überholt. Diese Tracks wurden mit extrem limitierten Mitteln produziert, doch gerade das macht auch immer noch ihren Reiz aus. Fast jedes der zehn Stücke ist noch exzellent hörbar, das Sequenzing schlüssig, die Kuration bestechend stark. Das kann man nicht von vielen Compilations behaupten – damals wie heute.
Warp veröffentlicht am 9. Dezember 2022 eine Neuauflage von »Artificial Intelligence« auf Vinyl. Auf der Warp-Website gibt es das originale Artwork inklusive der Inner Sleeves mit kurzen Interviews mit allen Artists zu sehen.
Bonus Beats
Akai Solo – »Body Feeling« EP / »Spirit Roaming« LP (Backwoodz Studioz, 2022)
Akai Solo ist der beste Rapper, den keiner kennt. In den letzten drei Jahren veröffentlichte der junge MC aus Brooklyn reihenweise ausgezeichnete EPs, Mixtapes und sogar ein komplettes, von Navy Blue produziertes Album namens »True Sky«, das für mich schon zu den besten Rap-Alben des Jahres 2021 gehörte. Doch vom Ruhm seines Freundes und Förderers Earl Sweatshirt ist er noch weit entfernt.
Die Legende will es, dass Akais Mathelehrer ihm einmal »Nickel Plated Pockets« von Aesop Rock vorgespielt haben soll. Damals war er in der 6. Klasse, doch ich höre heute noch Bezüge auf die Def-Jux-Ära in seinem Stil. Nur schlüssig, dass er inzwischen über billy woods’ Backwoodz-Label veröffentlicht, das diese New Yorker Indie-Rap-Tradition fortführt. Gleichzeitig ist Akai kein Retro-Rapper, sondern ist ein besonders talentierter Vertreter jenes Lo-Fi-Movements, das seit einigen Jahren den alternativen Hip-Hop-Untergrund beherrscht.
Die Vorab-EP »Body Feeling«, die vor zwei Monaten erschien, und die ersten zwei Drittel des Albums »Spirit Roaming« sind aus einem musikalischen Guss. Die hypnotischen, leiernden, teilweise drumlos und sirupartig dahinfließenden Slow-Motion-Loops stammen von den üblichen Verdächtigen aus der Lo-Fi-Szene. Das letzte Drittel von »Spirit Roaming« wurde jedoch von Underground-Veteranen wie Preservation oder Animoss produziert und zeigt eine neue Seite des jungen Rappers.
Jeden Beat nutzt Akai Solo wie eine Leinwand und breitet seinen Graffiti-inspirierten Wildstyle-Flow in alle Richtungen darauf aus. Seine abstrakten Metaphern sind schwer zu dechiffrieren, doch es gibt hier nichts zu »verstehen«. Es ist reine, pure Rap-Kunst in ihrer Essenz. Entweder du fühlst es oder nicht – dazwischen gibt es nichts. Beim Hören muss ich an Skeme denken, wie er in »Style Wars« zu seiner Mutter in der Küche sagt:
»I don’t care about nobody else seeing it or the fact if they can read it or not – it’s for me and other graffiti writers so that we can read it. All these other people that don’t write, they’re excluded, I don’t care about them. No, they don’t matter to me. It’s for us.«
Höre jetzt das neueste Update der Zen Sounds-Playlist.
© Stephan Kunze 2022