Zen Sounds 034: »Nature, forgiveness, friendship, and mortality«
Mit Musik von Meredith Monk, Duval Timothy, Actress, Carmen Villain, Ulla, Christina Vantzou und Malibu
Meredith Monk zum 80. Geburtstag
Eine der größten Künstlerinnen der Avantgarde-Musik ist vor ein paar Tagen 80 Jahre alt geworden. Ihr Münchner Label ECM hat zu diesem Anlass eine Werkschau herausgegeben – eine schicke 13-CD-Box mit 300-seitigem Booklet: Meredith Monk, »The Recordings«.
Mein Startpunkt in den Monk-Kosmos war vor einigen Jahren das Album »Dolmen Music«, aufgenommen in den Jahren 1980/81. Ich kannte das Sample, das DJ Shadow für »Midnight in a Perfect World« verwendet hatte, doch als ich zum ersten Mal das Original von »Gotham Lullaby« hörte, geriet ich vollkommen in den Bann von Monks Stimme und der Melodie des Stückes – was um so faszinierender ist, weil sie es in einer Fantasiesprache singt. Du findest die originale ECM-Aufnahme in der Zen Sounds-Playlist; hier siehst du eine Live-Aufführung aus dem Jahr 2004.
Im Booklet der ECM-Retrospektive erzählt Meredith Monk von den Arbeiten an »Dolmen Music«. Schon bei ihrer ersten Aufnahme von »Gotham Lullaby« in einem New Yorker Studio soll Manfred Eicher im Kontrollraum getanzt haben – ein sicheres Zeichen dafür, dass die Produzentenlegende zufrieden war. Monk war jedoch nicht einverstanden mit ihrer stimmlichen Performance und wollte einen weiteren Take probieren. Eicher verließ das Studio, um einen Kaffee zu trinken. Der zweite Take war technisch perfekt, hatte jedoch nicht den magischen Geist der ersten Aufnahme. Eicher hatte erkannt, dass sie trotz handwerklicher Makel perfekt war.
Björk hat eine Coverversion von »Gotham Lullaby« auf ihrer »Vespertine«-Tour live performt – unter anderem bei einem Konzert in Stuttgart am Abend des 11. September 2001, als sie das Stück den Opfern des Terroranschlags widmete, der einige Stunden zuvor verübt worden war. Zuerst hatte sie das Stück im Jahr 1999 in einer Streicherversion mit dem Brodsky Quartet gespielt, die auch als professionelle Aufnahme existiert (siehe Video unten); auf der »Vespertine«-Tour sang sie es meist in Begleitung einer Harfe.
Monk arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Gesangslehrerin am College, und eine*r ihrer Student*innen zeigte ihr die Björk-Version ihres Stückes. Monk fand, dass Björk »den Geist und die Seele des Stückes eingefangen« und es gleichzeitig »zu ihrem Stück gemacht« habe. Sie war tief berührt und schrieb der Isländerin einen Brief. Die sang ihre Version erneut 2005 auf einem Tribute-Konzert für Monk in New York.
Es gibt sehr viel großartige Musik da draußen, aber eben auch diese ganz bestimmten – und relativ seltenen – Stücke, die so außergewöhnlich sind, dass ich, sobald ich ein solches Stück höre, sofort weiß, dass es mich von nun an mein Leben lang begleiten wird. »Gotham Lullaby« ist so ein Stück. Man kann nicht sagen, was für eine Stimmung es trägt, denn dafür ist es viel zu komplex. Monk singt nicht bloß – sie klagt, schluchzt, lacht und plaudert. Jemand hat mal geschrieben, dass sich hier eine Stimme selbst erstaunt beim Singen zuhört, und diese merkwürdige Metapher bringt es tatsächlich auf den Punkt. »Gotham Lullaby« ist die reine, unverstellte Freude am menschlichen Gesang. Worte wären hier vollkommen überflüssig.
»Gotham Lullaby« ist nur ein einziges Stück, auf einem von 12 großartigen, interessanten, seltsamen und wagemutigen Alben, die Meredith Monk in den letzten 40 Jahren für ECM aufgenommen hat. Schön, dass das Label diese außergewöhnliche Künstlerin, Sängerin und Komponistin mit solch einer liebevollen Werkschau ehrt.
Zen Sounds x dublab DE
Die letzte Zen Sounds-Übertragung wurde am 21.11. auf dublab DE gesendet und steht inzwischen im Archiv zum Nachhören bereit.
Tracklist:
Anja Lauvdal – A Swim (Smalltown Supersound, 2022)
Carmen Villain – Future Memory (Smalltown Supersound, 2022)
Sofie Birch / Antonina Nowacka – Sudany (Mondoj, 2022)
Loraine James – The Perception Of Me (Phantom Limb, 2022)
Priori – Winged (Naff, 2021)
Actress – Futur Spher Techno Version (Ninja Tune, 2022)
Nosaj Thing / Julianna Barwick – Blue Hour (LuckyMe, 2022)
Tirzah / Coby Sey – Hive Mind (Domino, 2021)
HTRK – New Year’s Day (Ghostly International, 2019)
Warpaint – Melting (Heirlooms, 2022)
Raum – Walk Together (Yellowelectric, 2022)
Astrid Øster Mortensen – Ø (Discreet Music, 2022)
Lucrecia Dalt – No Tiempo (RVNG Intl., 2022)
Lena Platonos – Bloody Shadows From Afar (Dark Entries, 1985/2015)
Coby Sey – Eve (Anwummere) (AD93, 2022)
Album der Ausgabe
Duval Timothy – »Meeting With A Judas Tree« (Carrying Colour, 2022)
Mit seinem minimalistischen Ambient-Jazz konnte der Londoner Pianist Duval Timothy in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit generieren, wurde zum gefragten Kollaborateur und spielte auf Alben von Solange, Robyn oder Kendrick Lamar. Sein neues Soloalbum »Meeting With A Judas Tree« bringt seinen charakteristischen Stil noch einmal auf den Punkt. Eingespielt hat er es über drei Jahre zwischen London, Umbrien und Freetown, Sierra Leone.
Auf der Hälfte der sechs Stücke kollaboriert Timothy mit den elektronischen Produzent*innen Yu Su, Fauzia und Lamin Fofana, die seine Klavierlinien mit Synthie-Flächen, Effekten und Texturen anreichern; dazu kommen eigene Feldaufnahmen, die zur Lebendigkeit des Materials beitragen. Auf Wanderungen in England, Italien und Sierra Leone nahm er »Insekten, Affen, Fledermäuse, Pflanzen, Bäume, Steine und so weiter« auf, »die alle auf dem Album sind«. Inspiriert von Gustav Mahlers »Lied von der Erde« erforschte er seine eigene Beziehung zur Natur.
Vor den großen Themen des Lebens hat Timothy keine Angst. Im »Lied von der Erde« geht es nach seiner Interpretation um »Natur, Vergebung, Freundschaft und Sterblichkeit«, und diese Aspekte beleuchtet er auch auf »Meeting With A Judas Tree«. Die Unbeständigkeit allen Seins ist es, der er hier mit tiefer Melancholie und gleichzeitig unbändigem, leidenschaftlichem Optimismus ins Auge blickt. Ein emotionales, berührendes Album, das dem ohnehin schon großartigen Katalog des multidisziplinären Künstlers einen weiteren Höhepunkt hinzufügt.
Actress – »Dummy Corporation« (Ninja Tune, 2022)
Für Darren Cunningham ist Techno keine Formel, sondern eine Linse, durch die er die Welt betrachtet. Wie Burial oder Zomby hat er längst sein ganz eigenes Subgenre elektronischer Musik begründet, das den musikalischen Linien zwischen Detroit und London nachspürt. Beim Hören seiner neuen EP »Dummy Corporation« musste ich an Goldie denken, der einst futuristische Wildstyle-3D-Pieces im Booklet seiner »Timeless«-LP zeigte und damit die Verbindung des britischen Hardcore-Kontinuum zur amerikanischen HipHop-Kultur offenlegte.
Auf »Dummy Corporation« reflektiert Cunningham seine eigene Jugend in der Ära von Heimcomputern, Datassetten und Floppy-Disks. Diese Reflektionen übersetzt er in eine verrauschte, vernebelte Soundästhetik. Auf dieser EP verlässt der 43-Jährige den Pfad der ruhigeren Kompositionen mit Vocals, die sein letztes Album »Karma & Desire« (2020) dominiert hatten; trotzdem kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendeines dieser Stücke am Wochenende in einem der großen Berliner Clubs laufen wird.
Die Hälfte der 40 Minuten Spielzeit geht auf das Konto des Openers und Titeltracks: Dumpfe Kickdrums, weißes Rauschen und in Statik ertränkte Streicher erinnern an Wolfgang Voigts GAS-Projekt. »Futur Spher Techno Version« verbindet Ambient Techno mit Kammermusik. »Fragments of a Butterfly’s Face« ist eine klassische Actress-Dekonstruktion, und »Dream« entführt uns für knapp zehn Minuten auf eine euphorische Detroit-Techno-Party im Nieselregen, auf der ausschließlich Replikanten tanzen. Wie schon gesagt: Actress hat längst sein ganz eigenes Subgenre erfunden.
Carmen Villain – »CV x Actress« (Smalltown Supersound, 2022)
Apropos Actress – sein bereits im Sommer erstmals veröffentlichter Remix von Carmen Villains »Only Love From Now On« (einem der klaren Anwärter auf den Album-des-Jahres-Titel) wurde nun auch auf Vinyl veröffentlicht. Die Norwegerin hatte Cunningham die kompletten Albumspuren geschickt, damit er sich einen Track zum Remixen aussuchen kann, doch er bastelte kurzerhand einen achteinhalbminütigen Megamix aus Versatzstücken aller Tracks und nannte ihn »Carmen Villain«. Auf der B-Seite befindet sich ein tolles, bislang unveröffentlichtes CV-Stück namens »A Year Ago«, das Ambient-Flächen, Dub-Texturen und Fourth-World-Sound auf magische Weise miteinander verwebt.
Ulla – »Foam« (3XL, 2022)
Die rätselhafte Ulla Straus, die sich inzwischen meist nur noch Ulla nennt, hat über die letzten fünf Jahre einen stetigen Strom von Alben und Projekten veröffentlicht. Manche waren herausragend, alle mindestens interessant. Manchmal wird ihre Musik ins zeitgenössische Dark-Ambient-Fach einsortiert, auch wegen ihrer Verbindungen zum West Mineral Ltd.-Label von Huerco S. und der gemeinsamen Projekte mit Pontiac Streator und Perila, doch ihr neues Album »Foam« klingt wie nichts, was sie je zuvor produziert hat. Es wirkt wie eine geisterhafte Funkübertragung in einer fremden, unverständlichen Sprache.
Der glückselige Glitch-Ambient auf »Foam« erinnert an die Clicks’n’Cuts auf Mille Plateaux, ein bisschen wie Jan Jelineks großartiges »Loop-Finding-Jazz-Records«, aber ohne die House-Rhythmen, dafür mit wortlosen Vocals. Ulla zerhäckselt Spuren von Jazz-Gitarre, präpariertem Klavier, dubbigen Texturen und ihrer eigenen, bearbeiteten Stimme und setzt diese anschließend zu faszinierenden Fraktalen zusammen. Manche Stücke klingen, als würden drei Tracks gleichzeitig laufen, zwei davon rückwärts abgespielt. Auf diese Weise entwickelt »Foam« einen experimentellen Klangteppich von heilsamer Qualität, ohne jemals in plumpe New-Age-Klischees abzudriften. Läuft bei mir rauf und runter.
Christina Vantzou – »No. 5« (kranky, 2022)
Bei ihren Albumtiteln ist die in Brüssel lebende, amerikanische Komponistin Christina Vantzou nicht sonderlich originell. Wahrscheinlich verbraucht sie ihren gesamten Ideenreichtum für die darauf enthaltene Musik. Als sie ihr fünftes Soloalbum in einem Spontananfall von Kreativität aus existierenden Rohaufnahmen editierte, hielt sich gerade auf einer Insel in der Ägäis auf. Mit Laptop und Kopfhörern saß sie tagein, tagaus auf der Terrasse und machte nur kurze Pausen von der Arbeit am Album, in denen sie schwimmen ging.
Die Musik auf »No. 5« bewegt sich zwischen Ambient und zeitgenössischer, elektroakustischer Komposition. Ventzous Stücke sind reich an verschiedenartigen Klängen, doch sie lassen jedem Element ausreichend Raum zum Atmen. Klavier, Bläser, Streicher, Synthesizer, opernartiger Gesang – 17 Musiker*innen tauchen auf dem Album auf, doch es ist in jeder Sekunde Vantzous ganz persönliche, ja: autobiografische Platte. Es gehe darauf ums Loslassen und um »weiche Grenzen«, sagt sie selbst, »nicht festgelegt und undefinierbar«. Ich finde, es ist eine wunderbare, langsame, stille und intensive Platte, die zwar im Sommer auf einer griechischen Insel geschrieben wurde, aber ganz hervorragend zu einsamen Herbstabenden in spärlich beleuchteten Großstadtzimmern passt.
Malibu – »Palaces of Pity« (UNO NYC, 2022)
Barbara Braccini alias Malibu ist eine Künstlerin aus dem Südwesten Frankreichs, die vor einigen Jahren von Julianna Barwick entdeckt wurde. Ihr Sound lässt sich als Ambient-Dreampop klassifizieren; ihre wortlosen, manipulierten Vocals erinnern an Enya, Liz Fraser und natürlich Barwick selbst, aber ihre Musik klingt nach Shoegaze, Hyperpop und euphorischem 90s-Trance, irgendwo zwischen den jüngsten Entwürfen von Sky H1 und Evian Christ. In ihrer NTS-Sendung folgt Guru Josh auf Grouper, Chicane auf Clams Casino – und es macht tatsächlich Sinn.
»Palaces of Pity« ist der Nachfolger ihres inzwischen drei Jahre alten Debüts »One Life« und bewegt sich im selben musikalischen Fahrwasser. Kraftvolle Synthie- und Streicher-Wellen türmen sich immer wieder auf, nur um anschließend abzuebben; dazwischen treibt Malibus ätherische, gurgelnde Stimme. Die Musik transportiert eine tiefe Trauer, aber betrachtet sie im Rückspiegel – die Trauer ist tatsächlich noch dichter bei uns, als es erscheint, doch sie ist überwunden und der Schmerz nur noch als Erinnerung existent. »Palaces of Pity« erinnert uns daran, wie es war, als wir bis zum Hals im schwarzen See der Depression steckten, aber spendet auch Trost und Seelenfrieden. Es ist Musik, die – wie Burial einmal gesagt hat – so unerträglich schön ist, dass man sie an diesen ganz speziellen Tagen nicht einmal anhören kann. Es reicht dann nur zu wissen, dass es Musik wie die von Malibu gibt.
Günseli Yalcinkaya hat für Dazed Digital ein seltenes Interview mit Malibu geführt.
Höre jetzt das neue Update der Zen Sounds-Playlist auf Spotify.
© 2022 Stephan Kunze