Zen Sounds 032: »A dream sequence for the listener«
Mit neuer Musik von Brian Eno, Sofie Birch & Antonina Nowacka, Lucrecia Dalt, Burial, Tycho und Mavi
Zen Sounds x dublab DE
Am 17.10. lief die neue Ausgabe meiner Radiosendung auf dublab DE. Diesmal widmete ich die Sendung vollständig dem New Yorker Rapper und Produzenten Ka, mit dem sich auch die letzte Ausgabe dieses Newsletters beschäftigte.
Album der Ausgabe
Brian Eno – »FOREVERANDEVERNOMORE« (Opal, 2022)
Einmal las ich in einem Interview mit dem Profi-Skateboarder Chris »Mango« Milic, dass er in jenem Sommer morgens immer von der U-Bahnstation zu einer Kunstgalerie in Red Hook, Brooklyn, am Hudson entlang gerollt sei und dabei »The Pavilion Of Dreams« von Harold Budd gehört habe – ein Album von 1978, das Brian Eno produziert und auf seinem Label Obscure Records veröffentlicht hatte. Das Album wurde auch zum Soundtrack meines Sommers und veränderte die Art und Weise, wie ich Musik hörte, nachhaltig. Jahrelang studierte ich Enos Katalog, besuchte Ausstellungen, las Autobiografien und Tagebücher und hörte generell fast nur noch Musik ohne Beats.
Die übergeordneten Themen seines neuen Albums sind Umweltzerstörung und Klimakollaps. Als ich mich letzte Woche zu einer Listeningsession im MONOM, einem High-End-Klangraum im Funkhaus Berlin, einfand, erklärte Eno zunächst via Videobotschaft, dass er sich als überzeugter Umweltschützer nicht in ein Flugzeug setzen werde, um einer Listeningsession persönlich beizuwohnen. Ich finde das angenehm konsequent, gerade in einer Industrie, in der Menschen immer noch für Meetings um den halben Erdball fliegen.
Dass ich das komplette Album über das »4DSound System« im MONOM hören durfte, das aus 48 multidimensionalen Lautsprechern besteht, war schon ein besonderes Erlebnis. Wenn man durch den Raum ging, fühlte es sich an, als würde man sich in der Klanglandschaft des Albums fortbewegen. Seitdem es veröffentlicht wurde, habe ich es mehrmals in vergleichsweise minderwertiger, digitaler Qualität gehört, doch meine Faszination ist geblieben.
Wenn man unbedingt will, ist »FOREVERANDEVERNOMORE« so etwas wie Enos Emo-Album. Nach langer Zeit singt er wieder. Inzwischen ist er 74 Jahre alt, seine Stimme ist tiefer geworden, und sie fungiert auf dem neuen Material als weitere Klangschicht, gleichberechtigt neben Synthesizern und Drones. Sein repetitiver Gesang hat manchmal etwas von buddhistischen Chants. Trotzdem handelt es sich um ein glasklares Ambient-Werk. Es gibt keine Hooks und somit auch keine Strophen, keine Drums und keinen Bass, stattdessen nichts als Soundscapes von synthetischer Eisigkeit. Seine Musik ist angesichts des Ambient-Booms der letzten fünf Jahre so zeitgemäß wie selten zuvor, und doch gelingt ihm das Kunststück, sich nicht einfach nur selbst zu wiederholen. Ein beeindruckendes Album.
Sofie Birch & Antonina Nowacka – »Languoria« (Mondoj, 2022)
Die Zusammenarbeit der dänischen Ambient-Komponistin Sofie Birch mit der polnischen Sängerin Antonina Nowacka geht auf das Unsound-Festival zurück, das jährlich im polnischen Krakau stattfindet. Dort gaben sie im letzten Jahr ein vielbeachtetes Konzert in einer Synagoge aus dem 19. Jahrhundert, das Anwesende nur als »magisch« beschrieben, und daraus wiederum ergaben sich gemeinsame Aufnahmen in Kopenhagen. Das Ergebnis liegt nun mit »Languoria« in Form eines Kollabo-Albums der beiden experimentellen Musikerinnen vor.
Birch, die mit »Holotropica« bereits im Frühjahr ein hervorragendes Soloalbum veröffentlicht hat, ist eine Meisterin der Hardware-Synthesizer, denen sie liebliche Glissando-Melodien entlockt und diese mit Zupfinstrumenten, Glocken und Field Recordings anreichert. In Kombination mit Nowackas zartem, manchmal nur gehauchten oder geflüsterten Sopran ergibt sich ein heller, ritueller Sound. Auf »Languoria« bleibt es nicht beim Versuch, die Natur zu imitieren; vielmehr ist es ein spirituelles Werk, das die Kraft und die Unberechenbarkeit der Natur beschwört. Die Künstlerinnen haben das eigentlich Unmögliche geschafft, nämlich die Magie eines Moments nicht nur festzuhalten, sondern sogar auf Albumlänge auszudehnen.
Lucrecia Dalt – »¡Ay!« (RVNG Intl., 2022)
»¡Ay!«, das neue Soloalbum der in Berlin lebenden Kolumbianerin Lucrecia Dalt, bekommt gerade überall begeisterte Rezensionen. Dalt ließ sich hierfür von der tropischen Musik ihrer Kindheit inspirieren, ganz besonders von Bolero und Son, aber auch von Flamenco, Mambo, Rumba und Merengue. Das Wire-Magazin hat eine Playlist mit den Einflüssen des Albums zusammengestellt, von lateinamerikanischer Musik über Jazz und Blues bis hin zu spirituellen Liedern. Sie verbindet diese Einflüsse jedoch mit abstrakten, elektronischen Klängen, so dass sich eine futuristische Vision dieser traditionellen Genres ergibt – was zu der Album-Backstory passt, dass die Protagonistin ein außerirdisches Wesen namens Preta ist, das auf der Erde zum ersten Mal lineare Zeit, Räumlichkeit und Sinnesreize erlebt.
Hier treffen jazzige Kontrabässe, Flöten und Klarinetten auf Dalts geflüsterte bis gesungene spanische Vocals. Das Ergebnis wirkt wie eine Mischung aus Film Noir und David Lynch, aus Tom Waits und Laurie Anderson. Einen derart innovativen Umgang mit südamerikanischer Musiktradition habe ich trotz Rosalía und den zahlreichen elektronischen Mutationen von Dembow und Reggaeton selten gehört.
Burial – »Streetlands EP« (Hyperdub, 2022)
Es ist kalt geworden da draußen, es nieselt und stürmt, kurz: die Burial-Saison ist offiziell eröffnet. Will Bevan hatte ja schon Anfang des Jahres mit »Antidawn« eine EP in Albumlänge veröffentlicht, und die drei Stücke der »Streetlands EP« setzen genau dort an, wo er im letzten Winter aufgehört hat. Die Garage- und Techno-Beats seines Frühwerks gehören wohl endgültig der Vergangenheit an, stattdessen serviert er uns drei überlange, impressionistische Ambient-Stücke, bestehend aus Vinylknistern, trancigen Synthieflächen, ASMR-Geräuschen und geisterhaften Stimmen. Burial kanalisiert Depression und Einsamkeit, aber auch Liebe und Hoffnung; den Weg in den Abgrund, aber auch das Licht am Ende des Tunnels. Es gibt keinen Zweiten, der es macht wie er. Er hat sein komplett eigenes Genre erfunden.
Tycho – Burning Man Sunrise Set 2022 & »Back To Mine« (Back To Mine, 2022)
In den 2010er Jahren veröffentlichte Scott Hansen aus San Francisco eine großartige Trilogie instrumentaler Alben: »Dive«, »Awake« und »Epoch«. Dabei wurde er von allerlei elektronischer Musik beeinflusst, die vor ihm kam: Vom Ambient Drum’n’Bass der 1990er-Jahre (LTJ Bukem, Roni Size), analoger Electronica (Boards Of Canada, Ulrich Schnauss) und Shoegaze (Slowdive, My Bloody Valentine). Später kamen Einflüsse aus Folktronica (Bibio, der frühe Four Tet) und Chillwave/Synthwave (Com Truise, Washed Out) dazu.
Für seine Trilogie kombinierte Tycho die Klänge analoger Synthesizer mit Drum Machines, verzerrten Gitarren, Indie-Melodien und Naturaufnahmen. Für mich erfüllt seine Musik die alte Eno-Definition, nach der Ambient genau so »interessant wie ignorierbar« sein sollte. Das macht vermutlich auch einen großen Teil ihres Erfolges aus.
Seit zehn Jahren spielt Tycho ein DJ-Set auf dem »Burning Man«-Festival in der Wüste von Nevada, und zwar stets zum Sonnenaufgang. Sein Jubiläums-Set in diesem Jahr begann mit der Stimme eines alten Bekannten, nämlich des Zen-Gelehrten Alan Watts. Weiter ging es mit experimentellen, elektronischen Beats von Rival Consoles, Bonobo, Daphni/Caribou und Max Cooper, doch in den zwei Stunden findet man noch jede Menge andere Tracks von mir bislang unbekannten, talentierten Produzent*innen, wie zum Beispiel dem Australier Pat Carroll oder dem Londoner Jasper Tygner. Ein hervorragender Mix, der sich wunderbar für ausgiebige Laufrunden in der Natur eignet.
Den Mix gibt es zum Streaming auf Soundcloud oder zum Download als WAV in Tychos neuer Web3-Community.
Auf Spotify gibt es auch eine User-Playlist, die fast alle Songs aus Tychos »Burning Man«-Sets der Jahre 2014-2022 beinhaltet.
Kurz nach dem »Burning Man«-Set, das Anfang September aufgezeichnet wurde, erschien auch eine neue Mix-Compilation von Tycho. »Back To Mine« ist eine seit 1999 erscheinende Compilation-Reihe, in der bereits Musiker*innen von New Order bis Pet Shop Boys, von Tricky bis Orbital eigene Mixes veröffentlicht haben.
Obwohl sich auch der »Burning Man«-Mix sehr gut zu Hause anhören lässt, ist die »Back To Mine«-Selection noch einmal entspannter geraten. »I wanted to take things one step further than one of my club or Burning Man sets as I knew this was an opportunity to enter that whole headphone, other worldly, cinematic, soundscape space«, wird Tycho im Pressetext zitiert. »I wanted the album to be almost like a dream sequence for the listener.«
Tatsächlich enthält der Mix einige mir bislang unbekannte Perlen, aber auch offensichtliche Einflüsse. Es gibt einen Bibio-Remix von einem Tycho-Stück und einen Tycho-Remix von einem Little-Dragon-Stück. Ein besonders schöner Song stammt von dem Gitarristen Nate Mercereau, der wohl schon Hits für Shawn Mendes geschrieben hat; ein anderer kommt von dem britischen Leftfield-Techno-Produzenten Luke Abbott. Der Mix erinnert mich an legendäre CDs wie die »DJ Kicks« von Kruder & Dorfmeister oder die »Late Night Tales« von Four Tet. Ein bisschen aus der Zeit gefallen, aber schön.
Bonus Beats
Mavi – »Laughing so Hard, it Hurts« (UnitedMasters, 2022)
Vor drei Jahren war der Rapper Mavi aus Charlotte, North Carolina, gerade erst 20 Jahre alt und veröffentlichte mit »Let The Sun Talk« ein überragendes Debütalbum. Der Biologiestudent gab sich noch eine Spur poetischer und verletzlicher als die meisten seiner Kolleg*innen aus dem Lo-Fi-Underground, erwischte aber dennoch komplett den Zeitgeist, so kurz nach Earl Sweatshirts »Some Rap Songs«.
Seitdem ist es nicht gerade still um Mavi geworden, immerhin gab es im letzten Jahr mit »End of the Earth« eine neue EP, außerdem schärfte er sein Profil durch ausgesuchte Features mit Earl, Pink Siifu & Fly Anakin und The Alchemist. Für sein zweites Album »Laughing so Hard, it Hurts« hat er mit sehr vielen Beatmakern zusammengearbeitet, von denen mir nur wenige etwas sagen (Monte Booker ist einer davon). Doch der junge Rapper hat ein ausgezeichnetes Ohr und pickt sich einen Haufen jazzig-warmer Neo-Soul-Beats zusammen, die mich in ihrer entspannt rollenden Qualität an Rejjie Snow oder Noname erinnern.
Auf diesem organischen, trotz der Vielzahl an involvierten Produzenten sehr kohärenten Soundteppich rappt Mavi kryptisch bis emotional über seinen persönlichen Überlebenskampf. Er macht keinerlei Anstalten, sich an den Zeitgeist anzubiedern oder einfache Playlisten-Hits rausfeuern zu wollen. Stattdessen scheint er primär damit beschäftigt, den Grundstein für einen langlebigen Katalog zu legen. Ein starkes zweites Album von einer Stimme, die für mich schon jetzt zu den spannendsten ihrer Generation gehört.
Höre jetzt das neueste Update der Zen Sounds-Playlist auf Spotify.
© 2022 Stephan Kunze