Zen Sounds 028: »Like the moment of stillness, after the wind passes through the garden«
Mit Musik von Satoshi Ashikawa, Akusmi, Sam Prekop & John McEntire, Warpaint und Elucid
Genau zwei Monate ist es her, dass ich mich in meinen »schwedischen Sommer« verabschiedet habe. Die freie Zeit habe ich exakt so genutzt, wie ich wollte, auch wenn meine ursprünglichen Pläne nicht ganz aufgingen – gerade das ist natürlich das Wesen von Plänen, weshalb ich ungern und selten welche mache.
Was meine Sommerlektüre angeht, so habe ich mich vor allem mit den praktischen und philosophischen Aspekten des Langstreckenlaufens beschäftigt. Alles fing mit Christopher McDougalls »Born To Run« an. Nach einer Empfehlung in einem Podcast habe ich es an einem einzigen Wochenende begeistert durchgelesen und bin gleich am nächsten Tag nach längerer Pause wieder losgelaufen. Es folgten die autobiografischen Bücher das achtsamen Ultrarunners Scott Jurek und die Ultrarunning-Klassiker von James Shapiro aus den 1980er-Jahren. Ich selbst laufe noch keine Ultra-Marathons, sondern bin mit gemütlichen 10-Kilometer-Runden gut ausgelastet. Wichtig ist: Ich laufe wieder, und es macht mir Spaß.
Eine spannende musikalische Entdeckung war das belgische Kunstkollektiv Pablo’s Eye, das in den 1990er-Jahren ein paar interessante Ambient-Techno-Platten produziert hat (wiederveröffentlicht bei Stroom). Die eigentliche Sensation ist jedoch ihr Art-Pop-Stück »A Duel« (1989), das den wahnsinnigen Chris-Milic-Part in »Alv’s Angels« untermalt. Der Song erinnert mich entfernt an Kate Bush. Und ja, »Running Up That Hill« lief bei mir rauf und runter, obwohl ich noch nie eine einzige Folge »Stranger Things« gesehen habe. »Master Of Puppets« natürlich auch.
Jenseits von solchen Allgemeinplätzen möchte ich heute mal wieder ein paar aktuelle (oder kürzlich wiederveröffentlichte) Alben empfehlen, die mich in den letzten Wochen und Monaten begeistert haben.
Satoshi Ashikawa – »Still Way (Wave Notation 2)« (WRWTFWW, 1982 / 2019)
Satoshi Ashikawa starb mit nur 30 Jahren bei einem Autounfall. Der Musikfanatiker hatte in den 1970er-Jahren in Tokio studiert und den Plattenladen »Art Vivant« im Stadtteil Ikebukuro eröffnet. Der Laden wurde zu einem Treffpunkt der frühen japanischen Ambient-Szene – man bekam dort importierte Brian-Eno-LPs, aber auch andere Nischen- und Avantgarde-Veröffentlichungen.
1982 veröffentlichte Ashikawa sein erstes und einziges Album »Still Way« auf seinem eigenen Label Sound Process, als zweiten Teil der »Wave Notation«-Trilogie, nach Hiroshi Yoshimuras »Music For Nine Postcards« (1982). In den späten 2010er-Jahren bekamen diese Alben, genau wie Yoshimuras »Green« (1986) oder Midori Takadas »Through The Looking Glass« (1983), neue Aufmerksamkeit über Youtube und spezialisierte Re-Issue-Labels. Spencer Doran von der US-Ambient-Gruppe Visible Cloaks stellte 2019 die ausgezeichnete Compilation »Kankyō Ongaku: Japanese Ambient, Environmental & New Age Music 1980-90« zusammen.
»Still Way« ist ein radikales Statement – radikal in seiner friedlichen Einfachheit, seinem entschleunigten Minimalismus. In den langen Stücken hört man meist nur ein bis drei Instrumente, vor allem Harfe, Klavier und Flöte. Midori Takada spielt Klavier und Vibrafon auf einigen Stücken. Ashikawa sah das Album als »musikalische Landschaft« oder als »Klangobjekt«, als Musik jedenfalls, die zum Teil der Umgebung wird und »schwebt wie Rauch«. Das erinnert an William Basinskis Vorstellung von Musik als »Raumperfum«. Im Pressetext zu »Still Way« wird jener spezielle Moment der Stille evoziert, »nachdem der Wind durch den Garten gezogen ist, wenn der Regen für eine kurze Sekunde aufhört«.
Bei »Still Park« muss ich an einen Moment vor einigen Jahren denken, als ich in einem Park in Kyoto einen alten Mann auf einer traditionellen Shakuhachi-Flöte spielen hörte. Kinder liefen umher, im Hintergrund rauschte ein kleiner Bach. Vielleicht war es der Jetlag, der mir noch in den Knochen steckte, vielleicht auch mein wankelmütiger Zustand nach mehreren Tagen in Tokios Lichter- und Klangrausch – jedenfalls war ich plötzlich den Tränen nahe. Ich setzte mich auf eine Bank und hörte zu. Es entstand ein Moment der Einkehr, in dem alles zu stimmen schien. War das vielleicht Glück? »Still Way« ruft dieses Gefühl jedenfalls wieder hervor, wenn ich es in unserem Berliner Apartment laufen lasse und sich die sanften Harfenklänge mit dem Rauschen der Straße und dem Geschrei der Kinder im Hof vermengen, während meine Hündin unter dem Schreibtisch döst.
Akusmi – »Fleeting Future« (Tonal Union, 2022)
Vor einigen Monaten saß ich mit dem Art Director und Kurator Adam Heron in einem Friedrichshainer Café. Ich hatte Adam kennengelernt, als er noch für Labels wie Erased Tapes oder Matthew Halsalls Gondwana arbeitete, und nun berichtete er mir begeistert von diesem Album, das als erste Veröffentlichung auf seinem eigenen Label Tonal Union geplant war. Er habe eine Testpressung des Albums erst vor wenigen Tagen auf einer erstklassigen Anlage in einem audiophilen Weinrestaurant gespielt, und sofort sei ein Gast zu ihm gekommen, nur um zu fragen, was er da höre – für Adam war das Zeichen genug, dass die richtigen Menschen schon verstehen würden, wie gut »Fleeting Future« von Akusmi ist.
Tatsächlich haben sich inzwischen schon der Guardian, Mojo, The Quietus oder Bandcamp Daily in Lobeshymnen über das Debüt des in London lebenden Franzosen Pascal Bideau ergossen. Sein Sound ist eine Kombination aus Einflüssen des klassischen Minimalismus (vor allem Steve Reich und Philip Glass), kosmischem Spiritual Jazz, indonesischer Gamelan-Musik, der Fourth-World-Vision von Jon Hassell und zeitgenössischer Elektroakustik. Das klingt sehr verkopft, ist aber erstaunlich zugänglich geraten, zumal die Musik viel Dynamik und Emotionalität in sich trägt. Die hypnotischen Loops orchestrierte Bideau, indem er eigene Spuren und die von Gastmusiker*innen wie Ruth Velten (Saxofon), Florian Juncker (Posaune) und Daniel Brandt (Schlagzeug) geschickt übereinanderlegte.
Im Pressetext heißt es, Bideau ließ sich dabei unter anderem von Youtube-Videos von Fahrten durch japanische Landschaften und Städte inspirieren: »It’s never going to be any replacement for the real thing, but with places that really touch you, it works.« Damit kann ich viel anfangen – jahrelang habe ich gern diese Videos von Autofahrten und Spaziergängen durch asiatische Großstädte geschaut. Um blinden Fortschrittsoptimismus geht es Akusmi jedoch keineswegs. »Fleeting Future« bezieht sich auf die Theorie, dass sich die vielen datenbasierten Zukunftsprognosen gegenseitig beeinflussen und oft sogar aushebeln. Somit werde die Zukunft im Big-Data-Zeitalter keineswegs vorausseh- oder planbarer, sondern bleibe genau so ungewiss und chaotisch wie eh und je. Ein tröstlicher Gedanke.
Sam Prekop & John McEntire – »Sons Of« (Thrill Jockey, 2022)
Prekop und McEntire sind zwei Veteranen der Chicagoer Postrock-Szene um Bands wie The Sea & Cake oder Tortoise. Ihr neues Kollabo-Projekt, das einige Jahre in der Mache war, schließt an Prekops letzte, elektronisch geprägte Solowerke an. Der offensichtlichste Unterschied: Die rhythmischen, geradlinigen Figuren, die einen roten Faden durch die vier langen Stücke bilden – Vier-Viertel-Drums im House-Spektrum, sehr weit vorne im Mix, verleihen den Stücken eine unprätentiöse Direktheit. Die stetige Kickdrum und die scheppernden Hi-Hats treiben die mäandernden Synthesizer-Improvisationen gemächlich vor sich her.
Tracks wie der starke Opener »A Ghost At Noon« oder das zentrale, gut 23-minütige »A Yellow Robe« sind keine endlosen Loops, sondern leben von sich stetig entwickelnden melodischen Figuren und Texturen. Immer, wenn man sich an einer Melodielinie oder einem Klang sattgehört haben könnte, führen die beiden Musiker ein seltsames Instrument, einen anderen Beat oder ein neues wiederkehrendes Geräusch ein, um die Aufmerksamkeit zurück auf den Strom zu lenken.
In seinen klanglichen Texturen bewegt sich »Sons Of« in beinahe balearischen Gefilden – kosmischer Krautrock spiegelt sich darin genau so wie früher Proto-House und 1980er-Ambient. Die Rhythmen werden im Laufe des Albums komplexer, die Sounds merkwürdiger. Die Reise beginnt am späten Nachmittag, draußen, auf einer Terrasse irgendwo am Meer, und endet kurz nach Sonnenuntergang, auf dem Heimweg mit den Schuhen in der Hand und den Füßen im abgekühlten Sand.
Warpaint – »Radiate Like This« (Heirlooms, 2022)
Schon anlässlich der ersten Single »Champion« habe ich meine volle Bewunderung für diese Band aus Los Angeles kundgetan, deshalb fasse ich mich jetzt kurz. In den letzten Wochen habe ich mich immer wieder durch ihren Katalog gewühlt, aber auch ihr neues, nach sechsjähriger Baby-/Coronapause veröffentlichtes Album mit Anlaufschwierigkeiten lieben gelernt. Es ist ein ruhigeres, ja sagen wir ruhig »erwachseneres« Werk als die Vorgänger. Das steht den vier gereiften Musikerinnen gut zu Gesicht. Bei Warpaint ging es nie nur ums Songwriting, sondern vor allem um das Zusammenspiel von Rhythmik und Texturen, um einen magisch fließenden Klangteppich. Man könnte sogar behaupten, dass sie eine Form von Indie-Dreampop spielen, der mit Ambient- und Krautrock-Elementen arbeitet. Mein Lieblingssong auf dem neuen Album heißt »Melting«, klingt auf dem Album mit den programmierten Drums beinahe wie ein HTRK-Stück, wurde bei den Konzerten im Sommer jedoch als Akustikballade performt. Ein berührender Moment.
Bonus Beats
Elucid – »I Told Bessie« (Backwoodz Studioz, 2022)
Der New Yorker Elucid, der mit billy woods auch das Duo Armand Hammer bildet, ist neben woods und milo (aka R.A.P. Ferreira) einer der interessantesten Rapper der Gegenwart. Seine assoziativen Reimketten entspinnen sich in freier Form, ungebunden an Regeln von Metrik und Technik, und wenn überhaupt, dann stehen sie in einer Traditionslinie mit den silbengewaltigen Innovatoren des Genres: Pharoahe Monch, Busdriver, Killer Mike oder Vast Aire fallen mir als Referenzen ein, wobei letzterer auch eine ähnliche Dringlichkeit in seiner Delivery trägt.
Elucid hat die Sensibilität eines Dichters, doch seine Musik ist Rap, keine Spoken-Word-Poesie. Bei ihm wird jeder Satz zum spirituellen Mantra, das sich in die Gehirnwindungen bohrt, wie etwa das viermal wiederholte »Just got to heaven and I can’t sit down«, das im Opener »Spelling« als Quasi-Hook fungiert. Seine Geschichten, aber auch seine Sozial- und Systemkritik verpackt Elucid in kunstvolle, nicht-linear zu lesende Verse, deren Doppelbödigkeit sich nicht sofort beim ersten Hören erschließt. Man muss ihnen Zeit und Aufmerksamkeit widmen, denn »I Told Bessie« ist definitiv kein lyrisches Fast Food.
Auch die Beats, die Elucid pickt, klingen oft unberechenbar und seltsam – auf diesem Album stammen sie u.a. vom Indie-Duo Child Actor, vom Jazz-Exzentriker The Lasso, von Leftfield-Rap-Helden wie The Alchemist und Kenny Segal und von altbekannten Kollaborateuren wie August Fanon und Messiah Musik. Neben billy woods, der auf mehreren Tracks auftaucht, sind Pink Siifu und Quelle Chris als Gast-MCs dabei. Allesamt sind sie Teil eines zeitgenössischen US-Rap-Undergrounds, der für mich mindestens so gesund wirkt wie die Fat-Beats-Szene, die in den späten 1990er-Jahren einen Kontrapunkt zum schillernden Bad-Boy-Mainstream bildete. Schade nur, dass ein Äquivalent hierzulande sehr weitgehend fehlt.
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Das Programm von dublab.de setzt im August aus. »Zen Sounds« sendet daher erst wieder im September, genauer gesagt am 19.09.2022 von 16 bis 17 Uhr.
© 2022 Stephan Kunze