Zen Sounds 026: »I wouldn’t be surprised if my music evokes some nostalgia«
Mit Musik von Kenny Segal und Simon Lovermann
In diesem Newsletter schreibe ich seit Oktober letzten Jahres über aktuelle Musik, die mich begeistert – seit Februar diesen Jahres sogar wöchentlich. Doch es gibt Wochen, in denen ich kaum neue Musik höre, weil ich ältere Platten entdecke, die mich so tief in einen Kaninchenbau hineinziehen, dass all die neue Musik sich erstmal hinten anstellen muss. So war es diese Woche.
Instrumentaler Hip-Hop begeistert mich seit den mittleren 1990er-Jahren, seit den Tagen von Mo’ Wax und Ninja Tune, von DJ Krush und DJ Shadow. Ich habe die Entwicklung des Genres immer verfolgt, über die »Future Beats«-Blase der 2000er-Jahre bis hin zur heute populärsten Inkarnation, den sogenannten »Lo-Fi Beats«. Von einem Großteil der Fahrstuhlmusik, die sich in den einschlägigen Playlisten befindet, bin ich gelangweilt; stattdessen suche ich mehr denn je nach Produzent*innen, die mit einem eigenen, distinktiven Sound aufwarten.
Genau das ist es, was Kenny Segal ausmacht: Seine experimentellen Hip-Hop-Beats arbeiten mit Einflüssen aus Jazz und elektronischer Musik. Sie funktionieren nicht (nur) als angenehme Soundtapete, sondern kreieren ihre ganz eigene, spezielle Atmosphäre. Zwei von Segals Alben liefen diese Woche in meinem Home Office beinahe rund um die Uhr auf Dauerschleife; daher hielt ich es für eine gute Idee, sie meinen Newsletter-Leser*innen zu empfehlen.
Kenny Segal – »Happy Little Trees« (Ruby Yacht, 2018)
Kenny Segal – »Indoors« (Ruby Yacht, 2021)
Ein Kollege vom Mixmag nannte Kenny Segal mal »einen der besten Hip-Hop-Produzenten der Stadt« und bezog sich damit auf seine Wahlheimat Los Angeles. Die ersten Beats hatte Segal für die progressiven Rapper aus dem Umfeld des Project Blowed, eines ikonischen Open-Mic-Workshops im Stadtteil Leimert Park, produziert. Damals legte er Drum’n’Bass bei den »Konkrete Jungle«-Parties auf, später gehörte er zum Inventar auf Daddy Kevs einflussreichen »Low End Theory«-Events und kam dadurch zu bescheidenem Szene-Ruhm.
Heute ist Kenny Segal 43 Jahre alt und lebt in Jefferson Park, einem mitten in der Gentrifizierung befindlichen Viertel südwestlich der City. Sein Brot verdiente er nach dem Studium an der USC vor allem als Auftragsproduzent für Fernsehen und Werbung. Vor knapp zehn Jahren begann er, mit einem jungen, talentierten Rapper aus Maine zu arbeiten, der sich damals Milo nannte und gerade in die Stadt gezogen war. Heute ist Milo als R.A.P. Ferreira bekannt, und ihre gemeinsamen Projekte in den 2010er-Jahren gaben sowohl Ferreira als auch Segal einen ordentlichen Karriereschub. Eine andere Kollaboration, die Segal auf den Schirm vieler Indie-Rap-Fans brachte, war das Album »Hiding Places«, das er mit dem New Yorker Rap-Avantgardisten billy woods aufnahm.
Neben Rap-Projekten und Beat-Tapes veröffentlichte Segal in den letzten Jahren auch zwei instrumentale Alben voller ausgeklügelter Kompositionen und reicher Arrangements: »Happy Little Trees« (2018) und »Indoors« (2021). Sie sind quasi eine Antithese zu den allgegenwärtigen »Lo-Fi Beats« – trotz Vinylgeknister ertönen üppige Live-Instrumentierung und satte Drum-Sounds stets in glasklarem Mix. Produzenten wie Blockhead, Boom Bip und Boards of Canada sind die stilistischen Vorläufer von Segals Beats, die organische und elektronische Elemente auf atmosphärische Weise kombinieren.
Als Kenny Segal »Happy Little Trees« veröffentlichte, gab es noch kein instrumentales Album in seinem Katalog. Sein erstes Produzentenalbum »Ken Can Cook« von 2008 hatte verschiedene MCs gefeatured, seine »Kenstrumentals«-Reihe war eher in den Bereich der Beat-Tapes einzusortieren. »Happy Little Trees« hingegen ist ein Werk aus einem Guss: Einsame Naturbilder tauchen vor dem inneren Auge auf und versetzen die Hörer*innen in jenen naiven Zustand des Staunens bei absoluter Präsenz und Wachheit, wie wir ihn von langen Wanderungen kennen. Gleichzeitig transportiert die Musik eine unbestimmte Nostalgie, was Segal in einem Interview mit Passion Of The Weiss folgendermaßen goutiert:
»I’m drawn to nostalgic aesthetics in my regular life. If you look at the video games I play on Nintendo Switch, I love all the 16 bit, 8 bit throwback versions. I was just playing one called The Messenger, which is like a throwback to Ninja Gaiden. Even my house is full of thrift store furniture. All my gear, too. For the most part, I don’t really go in for the newest flashy gear. I like older stuff. I like records. So yes, I wouldn’t be surprised if my music evokes some nostalgia.«
Während Segal auf »Happy Little Trees« eine ästhetische Vision auf Albumlänge ausbuchstabiert, experimentiert er auf dem Nachfolger »Indoors« mit unterschiedlichen Einflüssen – so kehrt er auf »Limited Daps« zu seinen musikalischen Wurzeln zurück und stellt seine ganz eigene Version von Ambient Drum’n’Bass vor, während er auf »Limbic Friction« Elemente von Juke und Jazz kombiniert. Einen ähnlichen Ansatz verfolgte er bereits auf »Black Gesso« von »HLT«, und es gibt noch mehr Stücke, die stilistisch und atmosphärisch sehr unmittelbar an den Vorgänger anknüpfen. Ich kann mich dennoch des Eindrucks nicht erwehren, dass Segals kreative Fantasie noch stärker angeregt wurde, als sein Aktionsradius wegen der Lockdowns radikal eingeschränkt war.
Auf beiden Alben nutzt Kenny Segal jedenfalls Hip-Hop vor allem als Methode zur Erforschung neuer Räume und klanglicher Ideen. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass er zu jenen Musiker*innen gehört, die erst mit zunehmendem Alter ihr volles Potenzial entfalten. Zwischen »Happy Little Trees« und »Indoors« produzierte er noch zwei der besten Indie-Rap-Alben der letzten fünf Jahre (»Purple Moonlight Pages« von R.A.P. Ferreira und »Hiding Places« von billy woods) und steuerte zentrale Beats zu Alben von Armand Hammer, Busdriver oder Open Mic Eagle bei. Sein Hauptaugenmerk scheint dennoch darauf zu liegen, komplette Alben mit Rapper*innen zu realisieren – in dem bereits zitierten Interview sagt er, er versuche sich als »real producer in the Rick Rubin, Dr. Dre sense of the word.«
Ich habe mich sehr gefreut zu lesen, dass einer meiner Lieblingsrapper, ELUCID von Armand Hammer, sein neues Album »I Told Bessie« für Juni angekündigt hat – und dass in der Liste der Produzenten auch der Name von Kenny Segal auftaucht. Diese Musiker halten experimentellen, alternativen Hip-Hop mit Einflüssen aus Jazz und elektronischer Musik am Leben. Ich bin ihnen zutiefst dankbar dafür.
Simon Lovermann – »Nardis« (Der Greif, 2022)
Zum Schluss noch eine aktuelle Empfehlung aus dem Ambient- und Neoklassik-Bereich: Nach seinem emotionalen Debütalbum »Handwerke« aus dem letzten Jahr veröffentlichte der Münchner Komponist Simon Lovermann diese Woche – pünktlich zu Miles Davis’ Geburtstag – eine Coverversion des Stücks »Nardis«, das Miles 1958 für Cannonball Adderley schrieb. Miles hat es selbst nie aufgenommen und Adderley nur ein einziges Mal, doch es wurde ein wichtiger Teil in Bill Evans’ Repertoire.
»Nardis« entstand kurz bevor Miles mit dem Arrangeur Gil Evans das Album »Sketches Of Spain« aufnahm und verwendet ähnliche musikalische Motive aus der spanischen Folklore. (»Sketches« wiederum war eins von Mark Hollis’ absoluten Lieblingsalben.) Lovermann schreibt in einer Rundmail, dass das Stück für zwei seiner Haupteinflüsse – nämlich Hip-Hop und Jazz – steht und dass es als Hommage nicht nur an Miles, sondern auch an Bill Evans und J Dilla zu verstehen sei. Tatsächlich hört man Dillas Rhythmik in den verzögert synkopierten Drums und Evans’ charakteristische Handschrift in Lovermanns farbenfrohem Klavierspiel. Seine moderne, offene Interpretation dieser wunderbaren Nummer eröffnet ab heute die Zen Sounds-Playlist auf Spotify.
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© 2022 Stephan Kunze