Zen Sounds 025: »Less push, more flow, please let me let go«
Mit Musik von Nu Genea, Kae Tempest & Kevin Abstract, Patricia Wolf, Mary Lattimore & Paul Sukeena und Hubert Daviz
In eigener Sache, Pt. 1: Deep Listening™
In letzter Zeit fragen mich Menschen immer öfter, was ich eigentlich so mache, wenn ich nicht gerade diesen Newsletter schreibe. Nun, zur Zeit absolviere ich einen Ausbildungslehrgang am Center for Deep Listening des Rensselear Polytechnic Institute im Staat New York. Am Ende dieses Lehrgangs, im Sommer 2023, bin ich hoffentlich zertifizierter Lehrer für Deep Listening™.
Die Gründerin des Centers, die Komponistin Pauline Oliveros, sah Musik als sinnstiftende Kraft. Deep Listening™ ist eine Praxis, die sie unter anderem aus Elementen der buddhistischen Hörmeditation und achtsamen Bewegungen aus dem Tai Chi entwickelt hat. Sie ermutigt die Praktizierenden auch, Teil eines kreativen Prozesses zu werden, anstatt sich bloß dem passiven Konsum hinzugeben. In der Entertainment-Vermarktungsmaschinerie begreifen wir Musik primär als kommerzielles Produkt; Deep Listening™ hingegen fokussiert sich auf die heilenden, gemeinschaftsbildenden Aspekte von Musik.
Ich kenne die buddhistische Hörmeditation aus meiner Zen-Praxis und begann vor einigen Jahren damit, mich für die von Oliveros entwickelten Techniken zu interessieren. Für mich ist die Ausbildung in Deep Listening™ eine Gelegenheit, nach 20 Jahren beruflicher Beschäftigung mit Musik einen neuen Zugang, ein neues Verständnis und eine neue Beziehung zu ihr zu finden. Ich freue mich sehr auf diese Reise und darauf, meine Erkenntnisse irgendwann mit euch zu teilen.
In eigener Sache, Pt. 2: Dublab-Archiv
Meine zweite Zen Sounds-Radiosendung ist jetzt im Archiv bei dublab.de hochgeladen und auch auf Mixcloud direkt verfügbar. Alle vergangenen Sendungen findet ihr hier.
Tracklist – 16.05.2022
Félicia Atkinson & Jefre Cantu-Ledesma – Ornithologie
Nate Scheible – With Any Kind Of Luck
William Basinski & Janek Schaefer – . . . on reflection (one)
Ben Vida & Lea Bertucci – The Vast Interiority
Svaneborg Kardyb – Orbit
Fazer – Zugzwang
Akusmi – Fleeting Future
Pachakuti & young.vishnu – Arjuna’s Fate
Gianni Brezzo – Il Consiglio
Chip Wickham – Astral Travelling
Martha Skye Murphy & Maxwell Sterling – 86 km (Excerpt)
Album der Ausgabe
Nu Genea – »Bar Mediterraneo« (Carosello, 2022)
Vor vier Jahren erschien ein Album dieser Italo-Funk-Band aus Neapel mit dem Titel »Nuova Napoli«. Damals hieß die Band noch Nu Guinea, doch im Zuge der identitätspolitischen Diskussionen der BLM-Ära benannten sie sich um. Mit der reichen musikalischen Tradition Papua-Neuguineas haben sie nichts am Hut.
Der Nachfolger »Bar Mediterraneo« ist anscheinend schon länger in der Mache; immerhin versüßte mir die erste Single »Marechia«, deren Text französischen und italienischen Slang vermischt, schon den Sommer 2021. Das Album besteht aus acht sonnengebleichten Funk-Songs, die noch vielseitigere Einflüsse als ihr Debüt aufweisen: Klassischer Boogie, Dub und sogar Folk spielen eine Rolle, aber auch der arabische Disco-Sound, der in den letzten Jahren dank Labels wie Habibi Funk wiederbelebt wurde. Um diese These zu stützen, muss man nur die dramatischen Streicher auf der Single »Tienaté« hören, oder auch die Kollaboration mit dem tunesischen Perkussionisten Marzouk Meijri (»Gelbi«).
»Bar Mediterraneo« ist ein musikalisch-kulturelles Patchwork – kein inhaltsloser Feelgood-Soundtrack, aber ein kleiner, erlaubter Moment des Eskapismus in einer Zeit, in der der Abstieg der westlichen Zivilisation so deutlich zu Tage tritt. Diese Musik macht die Welt für eine halbe Stunde ein ganzes Stück besser, oder sagen wir: erträglicher. Sie ist nicht belanglos, aber sie fordert auch nichts im Gegenzug. Sie wird mich durch den Sommer begleiten.
Song der Ausgabe
Kae Tempest feat. Kevin Abstract – »More Pressure« (American Recordings, 2022)
Wie schon beim Vorgänger fungierte Rick Rubin auf Kae Tempests neuem Album »The Line Is A Curve« als Executive Producer. Sein Einfluss scheint Kae gut zu tun – auf dem neuen Album klingt sie für meine Begriffe sehr versöhnlich, entspannt, kraftvoll, so als wäre sie mit sich im Reinen. Vielleicht ja auch, weil sie sich in der Zwischenzeit öffentlich als nonbinär identifiziert und in diesem Zuge auch ihren Vornamen (von Kate zu Kae) geändert hat.
Auf der schon seit längerem veröffentlichten Single »More Pressure« bereiten die trockenen Live-Drums von Kwake Bass und die unterkühlten Synthies den Boden für eine lebensbejahende Motivationshymne. Hip-Hop-sozialisierte Hörer*innen mögen sich an Kaes offensiv kultiviertem Spoken-Word-Flow stören, ich feiere sie gerade für das konsequente Ignorieren patriarchal geprägter Vorstellungen von »richtigem« Rap. Und für alle anderen gibt Kevin Abstract (von Brockhampton) im dritten Verse seine beste Andre-3000-Imitation zum Besten.
Patricia Wolf – »See-Through« (Balmat, 2022)
Es ist gerade mal ein paar Wochen her, da erschien Patricia Wolfs Debütalbum »I’ll Look For You In Others«. Bei der Ambient-Musikerin aus Portland, Oregon, scheint sich über die Pandemie einiges an Material angestaut zu haben, jedenfalls veröffentlichte sie soeben schon den Nachfolger »See-Through«, diesmal über Balmat, das junge Label, das der in Spanien lebende Pitchfork-Autor Philip Sherburne mit seinem Freund Albert Salinas aus der Taufe gehoben hat.
War ihr Debüt über weite Strecken ein Album der Trauer und der Melancholie, trifft »See-Through« leichtere, luftigere Töne. Die Grundformel aber bleibt gleich: Warme Synthesizer-Wolken und bearbeitete akustische Instrumente plus Wolfs ätherische Stimme und ihre eigenen Naturaufnahmen. In einem Song (»Pacific Coast Highway«) mischen sich sogar programmierte Beats zaghaft ins Gesamtbild – ein Weg, den die Künstlerin hoffentlich weiter verfolgen wird. Ihre große Stärke bleibt jedoch die erstaunliche Emotionalität, die sie mit ihrem Hauptinstrument, dem Synthesizer, zu transportieren imstande ist. »See-Through« ist ein Album wie ein Tagtraum, im Gras sitzend und tiefer lauschend, auf alles, was da noch zu hören ist, jenseits der Oberfläche. Genau die richtige Musik für die ersten Tage des Sommers.
Mary Lattimore & Paul Sukeena – »West Kensington« (Three Lobed, 2022)
Erstmal: Ich liebe dieses Cover. Was für ein Foto.
In dem abgebildeten Gebäudekomplex im Stadtteil Echo Park in Los Angeles waren die Harfinistin Mary Lattimore und der Gitarrist Paul Sukeena ein paar Jahre lang Nachbarn. Während der Lockdowns begannen sie, gemeinsam in Lattimores Wohnzimmer zu improvisieren, und das Material, das sich aus dieser Kollaboration ergab, landete schließlich auf »West Kensington«. Formal gesehen also durchaus ein Pandemiealbum, doch inhaltlich lässt es sich darauf nicht reduzieren. Die Musik beschreibt ein generelles Gefühl der Verbundenheit in einem besonderen emotionalen Moment.
Lattimore ist immer noch die interessanteste Harfinistin unserer Zeit, hier jedoch spielt sie auch Synthesizer, etwa auf einem der besten Stücke, dem magischen »Altar Of Tammy«. Sukeena fügt an Gitarre und Mellotron spannende Kompositionsideen und vor allem melancholische Melodiefragmente hinzu. »West Kensington« changiert im Verlauf seiner Spielzeit immer wieder zwischen Utopie und Dystopie. Es transportiert eine seltsam traurige, sehnsüchtig-nostalgische Stimmung, wie sie eben genau diese ersten Tage der Pandemie in sich trugen – doch dieses Gefühl ist ein universelles, das weit über diese schicksalhaften Tage Gültigkeit behält. Ein besonderes Album.
In dieser Folge vom FADER-Podcast erzählen die beiden Musiker*innen noch mehr über die Entstehung ihres gemeinsamen Werks.
Bonus Beats
Hubert Daviz – »A Diezel Odyssey« (Sichtexot, 2022)
Hubert Daviz, Kölner Beatmaker mit rumänischen Wurzeln, ist ein Anti-Popstar. Hunderte von Lo-Fi-Bastler*innen pflastern die Wände ihrer Altbauwohnungen in Schweden oder den Niederlanden mit seinen Albumcovern. Doch er gibt nicht gern Interviews, kollaboriert in aller Regel nur mit Freund*innen wie Wun Two, Retrogott oder Hulk Hodn und ist generell ganz zufrieden mit seinem Status als unter dem Radar fliegende Producer-Legende.
»A Diezel Odyssey« ist sein neuestes Album, das nur wenige Monate nach »The Replacement Service Tape« kommt. Diese 23-minütige Sammlung tiefergelegter Jeep-Beats stellt eine Art Kulmination von Huberts bisherigem Schaffen dar. Seine Instrumentals waren in den letzten Jahren immer experimenteller geworden; immer häufiger verzichtete er auf bestimmte tragende oder stilprägende Elemente klassischer »Lo-Fi Beats«, wie man sie in den einschlägigen Playlisten wie Sand am Meer findet.
Statt die ausgetreten Pfade wieder und wieder zu beschreiten, entdeckte Hubert eine neue – ich nenne sie mal: spirituelle – Seite an seinem instrumentalen Hip-Hop-Sound, ganz so als hätte er während der Produktion die »Oblique Strategies« verwendet. Insoweit passt es, dass auf einmal der geniale Rap-Mystiker Pink Siifu auftaucht. Oder dass eine Komposition wie »Nocturnal Birds« mit einem »Lo-Fi Beat« so viel zu tun hat wie ein Brian-Eno-Album mit jener gefälligen Klangtapete, die sich auf Bandcamp gern »Ambient« schimpft.
Im offiziellen Pressetext für das Album, den ich im Auftrag des Labels Sichtexot geschrieben habe (full disclosure), zog ich folgenden, irgendwie sehr typischen Musikjournalist*innenvergleich an den Haaren herbei, der aber meines Erachtens recht treffend geraten ist: »Imagine a Noah ‘40’ Shebib production recorded to analog tape and then buried six feet underground.«
Folge Zen Sounds auf Spotify und Instagram.
© 2022 Stephan Kunze