Zen Sounds 024: »Whole cars of lyrical graffiti«
Mit Musik von Gianni Brezzo, Pachakuti & young.vishnu, Chip Wickham, billy woods und Bigg Jus
Die ersten wärmeren Tage sind da. Und wie immer, wenn die Temperaturen steigen, verschieben sich meine musikalischen Vorlieben weg von den elektronischen, hin zu organischen, analogen Texturen. Ambient, Spiritual Jazz und alternativer, experimenteller Hip-Hop dominieren meine Playlisten im Mai.
Meine erste Zen Sounds-Radiosendung aus dem April ist nun übrigens im Archiv von Dublab nachhörbar. Die nächste Sendung läuft am Montag, den 16.05., von 16–17 Uhr, natürlich auch wieder bei Dublab.
Album der Ausgabe
Gianni Brezzo – »Tutto Passa« (Jakarta, 2022)
Gianni Brezzo heißt eigentlich Marvin Horsch. Der in Köln lebende Multi-Instrumentalist und Produzent hat mit »Tutto Passa« seine musikalische Verbeugung vor den italienischen Filmkomponisten der 1970er-Jahre aufgenommen. Die Soundtracks von Piero Piccioni, Stelvio Cipriani, Piero Umiliani oder Nino Nardini gehören seit Jahren zum Kanon der globalen Beatdigger-Community – ihre Tunes findet man regelmäßig in Mixes und Tracks von experimentellen Hip-Hop-Produzenten wie Flying Lotus oder Madlib. Horsch hat durch seine familiären Wurzeln auf Sizilien einen besonderen Zugang zu dieser Musik.
»Tutto Passa« pflegt einen ähnlichen musikalischen Ansatz wie zeitgenössiche Künstler*innen wie Adrian Younge, BadBadNotGood oder Hiatus Kaiyote: Schon irgendwie retro, vor allem was die analoge Wärme seiner Produktionen angeht, aber Horsch nimmt den Sound der italienischen Scores als Inspiration und transportiert ihn durch ein behutsames, kulturell sensibles Update in die Jetztzeit. Das ganze Album ist ein herrlich sonnengebleichter Frühsommer-Soundtrack, der gängige Adria-Klischees sehr weiträumig umschifft und stattdessen mit satten Streichern und Bläsern tatsächlich an die üppigen Arrangements von David Axelrod, Dexter Wansel oder Galt MacDermot erinnert.
Pachakuti & young.vishnu – »Dédalo« (MPM, 2022)
Der Multi-Instrumentalist Pachakuti und der Beatmaker young.vishnu kennen sich aus der niedersächsischen Musikszene und spielten in den 2010er-Jahren zusammen in einer Kombo namens Soularkestra. »Dédalo« ist nun ihr zweites gemeinsames Album als Duo, und während sich der Vorgänger »Semilla« noch im weitesten Sinne der Lo-Fi-Beats-Szene zuordnen ließ, haben die beiden sich inzwischen komplett von solchen Schubladen freigeschwommen. Die gesampleten Loops sind »live« eingespielten Arrangements gewichen.
Dementsprechend lebendig und organisch klingt »Dédalo«: Traditionelle kolumbianische Instrumente, die Pachakutis Wurzeln repräsentieren, verschmelzen mit Jazz-, Latin- und Afrobeat-Texturen. Früher hätte man »Weltmusik« dazu gesagt, was natürlich überhaupt nicht klargeht. Mich erinnert das Album streckenweise an die »neuen« Embryo, aber auch an Roy Ayers und dann wieder an den von Hip-Hop beeinflussten, zeitgenössischen Jazz aus Los Angeles und London.
Dank diverser Gastmusiker*innen aus dem Umfeld der Künstler fühlt sich »Dédalo« an wie ein Album von einer »richtigen« Band. Man hört dem Album in jeder Sekunde an, dass alle Beteiligten sich nicht nur musikalisch gut verstehen, sondern auch philosophisch und spirituell auf einer Wellenlänge liegen. Die Musik versprüht ausschließlich positive Vibes, ohne dabei auch nur im Ansatz in eine Feelgood-Belanglosigkeit abzudriften. Eine beeindruckende Entwicklung.
Chip Wickham – »Astral Traveling« (Gondwana, 2022)
Ich liebe »Astral Traveling«, sowohl die Version von Pharoah Sanders als auch die von Lonnie Liston Smith. Gondwana-Labelchef Matthew Halsall hatte in dieser Reihe von Cover-12-Inches einst seine Versionen von Alice Coltranes »Journey In Satchidananda« und »Blue Nile« zum Besten gegeben. Chip Wickham, seines Zeichens Saxofonist und Flötist im Gondwana Orchestra, war auch auf Halsalls Debütalbum »Sending My Love« mit von der Partie. Zusätzlich zu »Astral Traveling« hat er noch zwei weitere Songs von Lonnie Liston Smith neu interpretiert: »Sais (Egypt)« und »Peaceful One«. Alle drei Versionen bringen den einzigartigen Vibe des Spiritual Jazz der frühen 1970er-Jahre ins 21. Jahrhundert.
Bonus Beats
billy woods – »History Will Absolve Me (10Year Edition)« (Backwoodz Studioz, 2012/2022)
Bigg Jus – »Black Mamba Serums v2.0« (Big Dada/Ninja Tune, 2004)
Für die Rubrik »The Inner Sleeve« in der aktuellen Ausgabe des Magazins »The Wire« hat der New Yorker Rapper billy woods ein Album ausgesucht, das ihn laut eigener Aussage stark beeinflusst hat: »Black Mamba Serums v2.0« von Bigg Jus.
billy woods schreibt darüber:
»Serums is still a powerful and daring listen today, and (…) it remains his most complete work. Whole cars of lyrical graffiti, heart wrenching memoir, searing sociopolitical commentary, old school scratches and cuts volleying across unapologetically avant garde production, this album contains multitudes.«
Ich freue mich, dass woods ausgerechnet dieses obskure Juwel ausgewählt hat. Es ist ein vergessenes Album, überschattet vom Kollaps der Musikindustrie und dem tiefen historischen Einschnitt des 11. September 2001. woods kann eine Geschichte über diese Zeit erzählen, denn es war die Zeit, in der er selbst versuchte, Fuß in der Musikwelt zu fassen. Sein Debütalbum »Camouflage« erschien 2003, doch kaum jemand interessierte sich damals so richtig dafür.
Bigg Jus war billy woods ungefähr zehn Jahre voraus. In den 1990er-Jahren stand er als Teil von Company Flow an vorderster Front der progressiven Indie-Rap-Bewegung. Nach der Trennung der Gruppe gründete er mit Hilfe der PR-Agentin Fiona Bloom und des Investors Peter Lupoff sein eigenes Label Sub Verse. Darauf erschien zum Beispiel das einflussreiche Solodebüt von MF DOOM, »Operation: Doomsday«, und auch Jus’ langerwartetes Solodebüt »Black Mamba Serums« sollte eigentlich dort erscheinen. Doch es kam alles anders.
Nach 9/11 fiel das Label buchstäblich in sich zusammen, dümpelte noch zwei Jahre vor sich hin und wurde 2003 geschlossen. Jus zog nach Atlanta und lizensierte »Black Mamba Serums« zunächst an ein japanisches Label. Dann kaufte das britische Big-Dada-Label die Rechte an einer kondensierten Version mit 13 Stücken und veröffentlichte es über seinen Vertriebsdeal mit der Indie-Bastion Ninja Tune. In diesem Kontext führte ich mit Bigg Jus im Jahr 2004 ein Interview, aus dem die folgenden Auszüge stammen:
Bigg Jus: Ich habe »Black Mamba Serums« aus Wut über die Stagnation von HipHop aufgenommen. Ich wollte ein Album machen, das aus den gängigen Schemata ausbricht. Außerdem wollte ich meinen bisherigen Weg reflektieren, um zu sehen, wohin ich gehen kann. Ich habe also eine Reise in die Vergangenheit unternommen. Und diese beiden Elemente habe ich verbunden.
Ursprünglich sollte das Album am 11. September 2001 veröffentlicht werden. Du hast dich jedoch kurz zuvor entschlossen, das Album zurückzuziehen.
Bigg Jus: Ich kann dir nicht genau sagen, was es war, das mich mein Album verschieben ließ. Ich denke, es war starke Intuition. Ich fand einfach, dass nicht die richtige Stimmung herrschte, um das Album an diesem Tag zu veröffentlichen.
Schon als wir mit Company Flow an »Funcrusher« arbeiteten, lebte ich in direkter Nachbarschaft zum World Trade Center. 1993, als die erste Bombe hochging, lebte ich nur zwei Blocks von den Twin Towers entfernt. Als ich mein Label Sub Verse gründete, hatten wir unser Büro auch nur ein paar Straßen weiter. Es war eine merkwürdige Zeit, und ich hatte das ständige Gefühl, das alles in dieser Stadt falsch lief. Die Atmosphäre in New York war nicht positiv.
Der 11. September hat alles verändert. Wir hatten unser Büro in Tribeca, in Fußreichweite vom World Trade Center. Nach dem Anschlag stand alles still. Die Energie war aus der Stadt und aus den Menschen verschwunden. Wir waren gerade dabei zu expandieren, aber nach 9/11 waren diese Pläne zerstört. Ich habe mich zurückgezogen, und damit stand auch das Label still. Es war eine harte Zeit. Man muss sich vorstellen, dass wir ein paar Blocks von einem Ort entfernt waren, an dem tausende tote Körper herumlagen. Du konntest sie förmlich verwesen riechen. Der gesamte Bezirk schien voller verlorener Seelen zu sein. Ich konnte mich dort einfach nicht mehr aufhalten. Ich bin bis heute nicht zurück nach New York gezogen, sondern wohne schon einige Jahre in Atlanta.
Du hast dein Album erst ein Jahr später veröffentlicht, allerdings zunächst ausschließlich in Japan.
Bigg Jus: Ich hatte ein Album aufgenommen, das ich wirklich mochte, und ich hatte einfach nicht die Chance es zu veröffentlichen. Trotzdem wollte ich es auf den Markt schmuggeln. Daher entschied ich, das Album in Japan herauszubringen. Hier in Amerika sind die Hörer immer engstirniger geworden. Nicht mal die College-Radios spielen noch interessante Musik, sondern dasselbe Zeug, das man den ganzen Tag bei den kommerziellen Sendern hört. Zehn Jahre Konditionierung haben ihre Wirkung gezeigt. Das wird langsam zu einem Problem. Es gibt ja durchaus noch Künstler, die ihren eigenen Weg gehen – nur hat die originelle Musik keine Chance mehr. Wir haben mit Company Flow versucht, eine künstlerische Revolution zu starten. Als wir »Funcrusher« herausbrachten, erreichte das Album die richtigen Leute. Heute scheint die Entwicklung genau gegenläufig zu sein. Ich weiß nicht, ob die Platte heute irgendwen erreichen würde.
»Black Mamba Serums v2.0« konnte 2004 tatsächlich keine großen Wellen mehr schlagen. Die Musikwelt hatte sich verändert. Keiner kaufte mehr Platten, geschweige denn intellektuelle, verspulte Underground-Rap-Alben. »Backpacker« war plötzlich ein Schimpfwort, sogar unter Musikjournalist*innen. Trotzdem ist das Album aus heutiger Sicht großartig gealtert. Eigenwillige Off-Beat-Flows, freie Reimschemata, eine enorm bildhafte Sprache, vielseitige und stimmungsvolle Instrumentals und eine druckvolle Dringlichkeit in der Delivery. Jus folgte keinen populären Trends, sondern besann sich auf das B-Boy-Ethos der Originalität.
Nach »Black Mamba Serums« veröffentlichte Bigg Jus noch zwei (sehr gute) Alben über das Indie-Label Mush Records. Seine Diskografie endet im Jahr 2012, doch im Weird-Rap-Podcast kündigte er im August letzten Jahres ein neues Album an.
In jenem Jahr, in dem das bislang letzte Lebenszeichen von Bigg Jus zu hören war, erschien billy woods’ drittes Album »History Will Absolve Me«. Es stellte nach zehn schwierigen Jahren so etwas wie seinen späten, zaghaften Durchbruch dar – und es läutete eine neue Ära des Indie-Rap ein. Soeben wurde es übrigens in einer »10Year Edition« neu aufgelegt.
»History Will Absolve Me« erschien, nachdem billy woods sich von seinem Duo-Partner Priviledge getrennt hatte. Als Super Chron Flight Brothers hatten sie einige Alben veröffentlicht, doch ihnen war der Erfolg – selbst auf bescheidener Indie-Ebene – verwehrt geblieben. Nach acht Jahren nahm woods wieder ein Soloalbum auf. In seiner Brachialität spannt es einen musikalischen Bogen von Def Jux bis Death Grips. Ausgerechnet mit diesem Album begann sein Siegeszug: Es folgten großartige Werke mit Produzenten wie Blockhead oder Kenny Segal und mehrere moderne Klassiker mit seinem Rap-Partner Elucid unter dem Namen Armand Hammer.
Als Earl Sweatshirt 2018 sein Album »Some Rap Songs« promotete, das den Sound des alternativen, experimentellen Hip-Hop auf Jahre hin verändern und prägen sollte, erwähnte er in Interviews immer wieder, welch enorme Inspiration billy woods für ihn darstellte. Insoweit existiert eine direkte Traditionslinie, die vom Whitelabel-Underground der 1990er-Jahre zum Lo-Fi-Rap der Gegenwart führt. billy woods stellt hierbei ein wichtiges Bindeglied dar – ein Künstler, der auch in schwierigsten Zeiten weitermachte und keine Kompromisse einging. »History Will Absolve Me« ist Zeugnis dieser unbeugsamen Attitüde und muss heute in einem Atemzug mit großen Indie-Rap-Klassikern wie »The Cold Vein« und »Madvillain« genannt werden.
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© 2022 Stephan Kunze