Zen Sounds 023: Quadrophonische Symphonien für Orchester und E-Maschinen
Mit einem Nachruf auf Klaus Schulze, einem Buch über Mark Hollis und Musik von William Basinski & Janek Schaefer, KMRU & Aho Ssan und Svaneborg Kardyb
In Erinnerung an Klaus Schulze (1947–2022)
Am 26. April starb Klaus Schulze, ein echter Pionier der elektronischen und experimentellen Musik, im Alter von 74 Jahren.
Schulze gehörte zur progressiven Berliner Szene, die sich ab 1968 im »Zodiak Free Arts Lab« am Halleschen Ufer traf. Er spielte Schlagzeug, zunächst bei Tangerine Dream, dann bei Ash Ra Tempel, ab 1972 arbeitete er vor allem als Solokünstler. Beeinflusst war er nicht so sehr von Pop und Rock, sondern von Musique Concrète und minimalistischen Komponist*innen wie Terry Riley oder Steve Reich. Das zeigte sich schon im Untertitel seines Debütalbums: »Irrlicht – Quadrophonische Symphonie für Orchester und E-Maschinen«.
In den Jahren 1973/74 entdeckte Schulze sein künftiges Hauptinstrument, den Synthesizer. Anschließend veröffentlichte er mehrere Meilensteine, die den Stil der sogenannten »Berliner Schule« konstituierten: »Timewind«, »Moondawn«, »Mirage« oder »Dune«. Charakteristisch für diese klassischen Alben waren psychedelische Synthie-Drones und mäandernde Stücke, die meist über eine ganze LP-Seite gingen, also zwischen 20 und 30 Minuten lang waren. Schulze spielte sie oft live im Studio ein, auf analogen ARP-Synthesizern, einem Moog-Modularsystem (»Big Moog«), Mellotron, Farfisa-Orgeln und frühen Hardware-Sequenzern.
1978 gründete er mit dem Musikjournalisten Michael Haentjes das Label Innovative Communication, das NDW-Bands wie Ideal oder DIN A Testbild, aber auch Krautrock-Pioniere wie Popul Vuh oder Synthesizer-Komponisten wie Robert Schröder veröffentlichte. 1983 zog Schulze sich aus dem Labelbetrieb zurück.
Mit dem Album »Dig It« (1980) hatte eine neue Zeitrechnung in Schulzes Oeuvre begonnen. Der Titel des ersten Stückes, »Death Of An Analogue«, steht für seinen Wechsel zu digitalen Synthesizern. Später kehrte er teilweise zu analogen Geräten zurück. In den 1980er- und 1990er-Jahren experimentierte er mit Drum Machines, MIDI-Technik und Sampling; auch kollaborierte er mit klassischen Musiker*innen, mit Produzent*innen aus der Techno- und Ambient-Szene sowie mit der Dead-Can-Dance-Sängerin Lisa Gerrard. Bis 2010 trat er noch live auf. Insgesamt produzierte er in seinem Leben mehr als 50 Alben. Sein letztes Album »Deus Arrakis«, an dem er bis kurz vor seinem Tod gearbeitet hat, wird am 10. Juni erscheinen.
Zu Klaus Schulzes Tod schrieb Daniel Lopatin (Oneohtrix Point Never) in einem Instagram-Post:
Goodbye to the kosmische musik G.O.A.T Klaus Schulze! Synth Valhalla awaits. NOW LISTEN TO EVERY INNOVATIVE COMMUNICATIONS RECORD ✨
Ben Wardle – »Mark Hollis: A Perfect Silence« (Rocket 88, 2022)
Mark Hollis war ein außergewöhnlicher Musiker, vielleicht ein Genie. Ein introvertierter, kompromissloser Künstler, der den Rückzug ins Private dem Ruhm der großen Bühne vorzog und dem aufgeregten Lärm der Moderne würdevolles Schweigen entgegensetzte. Noch mehr als die Musik liebte er die Stille.
Über Hollis und seine Band Talk Talk ranken sich die merkwürdigsten Mythen. Der Autor Ben Wardle hat ein Buch geschrieben, auch um damit aufzuräumen. Es war keine leichte Aufgabe, das Leben dieses notorisch verschwiegenen Menschen nachzuzeichnen. Weder Hollis’ Witwe noch die ehemaligen Bandmitglieder oder sein langjähriger Produktionspartner Tim Friese-Greene sprachen für dieses Buch mit Wardle, aber immerhin der Manager der Band, Keith Aspden, sowie zahlreiche Musiker, die mit Hollis zusammengearbeitet hatten, und einige Figuren aus der Musikindustrie. Es ist solide recherchiert, gut geschrieben und steckt für einen Fan wie mich voller interessanter Anekdoten.
Eigentlich begannen Talk Talk – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – als recht durchschnittliche Synthie-Pop-Band, Anfang der 1980er Jahre in London. In ihrer Heimat wurden sie von der Musikpresse als Abklatsch von Duran Duran niedergeschrieben. Doch geschmackvolle Popsongs wie »It’s My Life« oder »Such A Shame« bescherten ihnen außerhalb Englands beachtliche Erfolge. Auf ihrem dritten Album »The Colour Of Spring« (1986) machten sie einen kreativen Quantensprung, als Hollis und Produzent Friese-Greene die Synthesizer gegen organische Instrumente tauschten. In Interviews nannte Hollis nun John Coltrane, Miles Davis und Béla Bartók als Einflüsse. Trotzdem gab es auch die kommerziellen Hit-Singles, die ihre Plattenfirma forderte.
Wegen des weltweiten Erfolgs von »The Colour Of Spring« bekamen Talk Talk für den Nachfolger ein nahezu unbegrenztes Aufnahmebudget zur Verfügung gestellt. Sie nahmen in monatelangen, unkonventionellen Sessions das Album »Spirit Of Eden« auf. Es erschien 1988 und diente mit seinen sechs unkonventionellen, teilweise improvisierten und aus vielen Aufnahmespuren zusammengefügten Stücken als Blaupause eines neuen Subgenres, das man später Postrock nennen würde. Eine Single befand sich nicht darauf – zu Kompromissen war Hollis nicht mehr bereit. »Spirit Of Eden« wurde von der Plattenfirma damals als kommerziell unverwertbar eingeschätzt, allerdings später von vielen Musiker*innen als wesentlicher Einfluss bezeichnet und von Kritiker*innen nachträglich als Klassiker bewertet.
Der Nachfolger »Laughing Stock«, der 1991 nach Zahlung eines Vorschusses von einer Million Pfund bei Polydor erschien, geriet sogar noch experimenteller. Hollis orientierte sich inzwischen nur noch an atonaler Musik, modalem Jazz und dem psychedelischen Rock der 1960er-Jahre. Die kontemplativen Songs entfalten sich langsam und leben von einer enormen Dynamik. Es gibt Momente absoluter Stille und Momente dissonanten Lärms. Hollis' charakteristische Stimme zittert, fleht und leidet. »Laughing Stock« floppte kommerziell, doch es beeinflusste Bands wie Tortoise, Radiohead, Sigur Rós oder The Notwist maßgeblich. Weder »Spirit Of Eden« noch »Laughing Stock« wurden jemals live gespielt. Bereits 1986 hatte Hollis verlautbaren lassen, nie wieder auf einer Bühne stehen zu wollen.
1998, sieben Jahre nach »Laughing Stock«, veröffentlichte Hollis noch ein selbstbetiteltes Soloalbum. Es war ursprünglich als letztes Talk-Talk-Album unter dem Namen »Mountains Of The Moon« angelegt gewesen, doch kurz vor der Veröffentlichung änderte Hollis seine Meinung. Das Album wurde von seiner Plattenfirma einmal mehr zögerlich bis gar nicht vermarktet, bekam wohlmeinende Kritiken, hatte aber keinen kommerziellen Impact. Man kann trotzdem davon ausgehen, dass Hollis einige Jahre später durch den Welterfolg des No-Doubt-Covers seines Songs »It’s My Life« endgültig finanziell unabhängig wurde. So hinterlässt er einen relativ schmalen Katalog: Fünf Alben mit Talk Talk, einige B-Seiten und ein Soloalbum. Danach produzierte er nur noch ein paar Stücke für Jan Garbareks Tochter Anja und eines für den Soundtrack einer Krimiserie.
Die Stille, die Hollis nach seinem Soloalbum herrschen ließ, machte das Mysterium um seine Musik und seine Person noch größer. Dabei hatte er sich lediglich gegen die Musikindustrie und für ein Dasein als Familienvater entschieden. Während der Arbeiten an »Spirit Of Eden« war er mit seiner Frau aufs Land gezogen, in die Grafschaft Suffolk, zwei Autostunden nordöstlich von London. Nach der Geburt der zwei Söhne kehrten sie wieder in die Stadt zurück, doch Familie Hollis lebte zurückgezogen im Vorort Wimbledon. Wie Wardle herausfand, spielte Mark in den letzten 20 Jahren seines Lebens viel Golf, fuhr leidenschaftlich Motorrad und sammelte seltene Instrumente. Zwei Jahre vor seinem Tod zog er mit seiner Frau wieder aufs Land, diesmal nach Sussex.
Ein Popstar wollte Hollis nie sein, auf der Bühne stehen auch nicht. Er war ein ausgezeichneter Songwriter, der sich für Jazz, Klassik und experimentelle Musik begeisterte. Und er lebte konsequent nach seinen Werten. »Before you play two notes learn how to play one note — and don't play one note unless you've got a reason to play it«, soll er einmal gesagt haben. Wardle bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt, dass Hollis wirkte wie ein Zen-Buddhist mit dem Akzent eines Cockney-Geezers. Er war stolz auf seine Herkunft aus der Londoner Arbeiterklasse, liebte Tottenham Hotspur und die Seifenoper »EastEnders«. Über seine Musik sprach er nicht gern, weil alles, was er sagen wollte, darin steckt. Man muss nur bereit sein zuzuhören.
Full disclosure: Ich habe am Crowdfunding für »A Perfect Silence« teilgenommen und den Druck durch meine Vorbestellung mitfinanziert. Deswegen findet man meinen Namen neben vielen anderen in der Danksagung am Ende des Buches.
Album der Ausgabe
William Basinski & Janek Schaefer – ». . . on reflection« (Temporary Residence, 2022)
Es gab eine Phase in meinem Leben, in der ich nichts als die Musik von William Basinski hörte – sie lief morgens, mittags, abends, rund um die Uhr. Ich schlief zu seiner Musik ein und wachte dazu auf, sie begleitete mich durch die Stadt, ich arbeitete dazu und meditierte dazu und saß viele Stunden einfach nur da und hörte aufmerksam zu. Basinski selbst war es, der mich zu dieser Praxis inspirierte – in seinem Arcadia-Künstlerloft in Williamsburg lief seine Musik über Jahre quasi nonstop. Der Komponist verglich ihren Zweck mal mit einem dezenten Parfum, das im Raum hängt und beinahe unbemerkt die Atmosphäre verändert. Wer in Basinskis Welt einsteigen möchte, dem empfehle ich immer noch das Meisterwerk, das seinen späten Durchbruch bedeutete: »Disintegration Loops« (2001).
Sein neuestes Album ist eine Kollaboration mit dem britischen Avantgarde-Künstler Janek Schaefer. Basinski ertränkt seine Klaviermelodien gern in weißem Rauschen, hier hören wir seine charakteristischen Tape-Loops mal in ungewohnter Klarheit. Acht Jahre haben Basinski und Schaefer immer wieder an diesem Album gefeilt. Die Klavierlinien und Naturgeräusche wurden aus stundenlangen Studioaufnahmen und Field Recordings in mühevoller Detailarbeit identifiziert und aneinandergeschnitten. Sie scheinen hier inspiriert vom Produzenten Teo Macero und dessen Arbeit mit Miles Davis in den 1970er-Jahren, als er für Fusion-Jazz-Klassiker wie »Bitches Brew« die besten Momente langer Studio-Sessions editierte.
». . . on reflection« eignet sich als Hintergrundmusik, als »Parfum« sozusagen, aber auch zum fokussierten Deep Listening. In diesem Album steckt eine tiefe, fragile Schönheit. In seinen Klängen kann man sich verlieren oder finden – sie schimmern wie das Sonnenlicht am Abend, das sich auf der Oberfläche des Sees bricht, und du stehst am Ufer und staunst und spürst das Glück über deine Existenz, das sich in jeder Pore deines Körpers ausbreitet.
KMRU & Aho Ssan – »Limen« (Subtext, 2022)
Dieses Album ist so ziemlich das exakte Gegenteil von Basinskis Musik – es ist laut, dynamisch, abrasiv und erinnert mich insoweit an die älteren Werke des auf Island lebenden Australiers Ben Frost auf dem Bedroom-Community-Label, die in ihrer schieren Aggressivität jedes Black-Metal-Album in den Schatten stellten.
Joseph Kamaru, alias KMRU, kennt man seit seinem Album »Peel« (2020) eigentlich für meditative Field Recordings. Der aus Nairobi stammende Musiker studiert inzwischen an der Universität der Künste in Berlin. Aho Ssan heißt bürgerlich Desiré Niamké und lebt in Paris. Sein Debütalbum »Simulacrum« (2020) lebte von dissonanten, elektronischen Noise-Attacken nahe der Kakophonie.
Zusammen arbeiteten die ungleichen Künstler an einem Projekt für das Berlin-Atonal-Festival, bei dem sie sich von dem Anime-Klassiker »Akira« inspirieren ließen. Das Ergebnis dieser Auftragsarbeit, das Stück »Resurgence«, eröffnet ihr gemeinsames Album »Limen«. Es ist ein brachiales Stück Musik, eine Vertonung des natürlichen Kreislaufs von Zerstörung und Neuerschaffung. Aus elektrischem Zucken und extremen Frequenzen erwachen donnernde Sub-Bässe und schließlich sogar stolpernde Beats, die in einem Nebel aus kreischendem Lärm ertrinken. Der leisere, aber kaum weniger bedrohliche Mittelteil, »Rebirth«, lässt ein paar Minuten Zeit zum Durchatmen, bevor mit dem zentralen, zweiteiligen Stück »Ruined Abstractions« der Bombast zurückkehrt, diesmal in der Form von orchestralen Arrangements, die von allerlei fiesen elektronischen Störgeräuschen begleitet werden.
»I never made something so extreme«, soll Désiré laut Pressetext über dieses Album gesagt haben. Es ist das musikalische Äquivalent zu einem Vulkanausbruch – laut auf Kopfhörern oder guten Monitorboxen gehört, wird »Limen« zu einem mitreißenden, emotionalen, kathartischen Ereignis. Was für ein wunderschöner Krach.
Svaneborg Kardyb – »Orbit« (Gondwana, 2022)
Ein Duo aus Aalborg in Dänemark ist das neueste Signing auf Matthew Halsalls notorisch geschmackssicherem Spiritual-Jazz-Label Gondwana. Nikolaj Svaneborg spielt Klavier und Orgel, Jonas Kardyb spielt Schlagzeug. Seit drei Jahren machen sie zusammen Musik, auch wenn sie sich schon viel länger kennen. Ihre erste Single »Orbit« ist lyrischer, melodiöser Skandinavien-Jazz ohne jeglichen Kitschverdacht, mit Einflüssen aus Blues, Folk und nordischer Jazz-Tradition. Eine dezente elektronische Note rückt sie gleichzeitig in die Nähe von Labelkollegen wie Portico Quartet oder GoGo Penguin.
»Orbit« eröffnet ab heute die Zen Sounds-Playlist auf Spotify.
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© 2022 Stephan Kunze