Zen Sounds 021: »You'll see the light again«
Mit einem Buch über J Dilla und Musik von Whatever The Weather, Claire Rousay, Floating Points, Between Fields und Lawrence English
Premiere: Zen Sounds im Radio
Die erste Folge der »Zen Sounds«-Radiosendung wurde am vergangenen Montag auf dublab DE ausgestrahlt. Hier das Tracklisting:
Zen Sounds – 18.04.2022
Astrid Øster Mortensen – Smelter Væk
Jeremiah Chiu & Marta Sofia Honer – Snåcko
Tomáš Niesner – Chladná Voda
Adam Miller – Lucky Star
Julia Gjertsen & Nico Rosenberg – Tilflukt
Maya Shenfeld – Mountain Larkspur
Damian Dalla Torre – Alles Neu
Whatever The Weather – 17°C
Huerco S. – Plonk VIII
More Eaze – Crii
Patricia Wolf – I’ll Look For You In Others
Die nächste Episode läuft am 16.05.2022 von 16:00 bis 17:00 Uhr CET.
Dan Charnas – »Dilla Time« (MCD, 2022)
Nachdem ich im April endlich Tove Ditlevsens großartige Kopenhagen-Trilogie beendet hatte, konnte ich mich in Ruhe Dan Charnas’ Mammutwerk »Dilla Time« widmen, das schon im Februar, dem offiziellen »Dilla Month«, erschienen war.
Das Buch zeichnet die Lebensgeschichte des Ausnahmeproduzenten J Dilla erstmalig annähernd vollständig nach. Charnas erklärt in der angemessenen Tiefe, warum James Dewitt Yancey (1974-2006) trotz ausbleibenden Mainstream-Erfolgs von so vielen Musiker*innen und Musik-Nerds bis heute vergöttert wird. Er weist nach, dass Dilla mit seinen stolpernden MPC-Beats eine neue Form von Rhythmik etabliert hat – neben der »Straight Time« der europäischen Musiktradition und der (afro-)amerikanischen Innovation der »Swing Time« gibt es seit den 1990er-Jahren einen hinkenden Hybriden, »Dilla Time«. In seiner Argumentation für diese Theorie geht Charnas tief ins musikhistorische und musikwissenschaftliche Detail, beschreibt das kulturelle Erbe von Dillas Heimatstadt Detroit, ordnet sein Schaffen in die Musikgeschichte ein und erläutert seinen Einfluss auf andere Musiker*innen.
Dieser Einfluss ist kaum überhörbar. Pharrell Williams, Kanye West, Dr. Dre oder Kendrick Lamar waren und sind Fans. Ohne Dilla gäbe es die sogenannte Lo-Fi-Szene und auch die gesamte Future-Beats-Blase nicht in der heutigen Form. In verschiedenen Genres wie Hip-Hop, Jazz, R&B, (Neo-)Soul und elektronischer Musik ist seine Wirkung bis heute spürbar. Dillas eigene Einflüsse reichten von Motown bis Detroit Techno, von Tropicalia bis Spiritual Jazz, von Library Music bis zum Old-School-Hip-Hop der 1980er-Jahre. Beim Lesen von »Dilla Time« tauchte ich wieder tief in Dillas eigenen Katalog ein, aber auch in all die musikalischen Versatzstücke, die sich als Sample-Mosaik in seinen Produktionen wiederfinden.
Gleichzeitig hält Charnas der anhaltenden Glorifizierung durch seine Fans (meine eigenen Texte eingeschlossen) ein umfassendes Porträt eines fehlbaren Menschen entgegen, dessen Persönlichkeit auch problematische Seiten hatte. Charnas führte 190 Interviews mit fast allen wichtigen Protagonist*innen aus Dillas Familie, Freundeskreis und Arbeitsbeziehungen. Aus diesen Gesprächen destilliert der Journalist in akribischer Detailarbeit eine Geschichte, die mit großer Wahrscheinlichkeit sehr dicht an der Wahrheit liegt. Wo es auch nach der Recherche noch Widersprüche gibt, die sich mit journalistischen Mitteln nicht auflösen lassen, ergreift Charnas selten Partei, sondern stellt die Konflikte, ihre Parteien, Argumente und Motive nachvollziehbar und einfühlsam dar.
Charnas enttarnt in »Dilla Time« gleich mehrere Mythen und Sagen, die seit Dillas Tod immer wieder in Artikeln und Erzählungen aufgewärmt werden. So ist sein legendäres »Donuts«-Album laut Charnas nicht im Krankenhausbett entstanden, Dilla hat »Got Till It’s Gone« von Janet Jackson nicht produziert und seine rhythmischen Innovationen sind auch nicht allein dadurch entstanden, dass er die Quantisierungsfunktion an der MPC ausgeschaltet hat. Charnas erklärt, wie es zu diesen Mythen kam und wer möglicherweise ein Interesse an deren Verbreitung und Aufrechterhaltung hatte. Lange Passagen widmet er auch den Streitigkeiten um das Erbe und der zentralen Figur darin, Dillas Mutter Maureen »Ma Dukes« Yancey.
Charnas ist es gelungen, all diese Details, Perspektiven und Handlungsstränge zu einem biografischen Narrativ zu vereinen, das der Figur J Dilla wirklich gerecht wird. Ein Stück weit fühlte sich die Lektüre für mich an, als könne man damit 16 Jahre nach seinem Tod einen vorläufigen Schlussstrich unter die Aufarbeitung setzen. Wir dürfen die von ihm hinterlassene Musik natürlich weiter feiern und bewundern, sollten aber den Personenkult ruhen lassen. Ein Genie war Dilla zweifelsohne, ein Vorbild eher nicht. Er wollte auch nie eines sein. Er wollte einfach nur die krassesten Beats machen. In meinen Augen – und denen vieler seiner Kolleg*innen und Schüler*innen – ist ihm das gelungen. Vielleicht ist das ja auch einfach genug.
Album der Ausgabe
Whatever The Weather – »s/t« (Ghostly International, 2022)
Wenn die junge Loraine James an ihren Tunes schraubte, saß sie früher in ihrem kleinen Zimmer in einem der oberen Stockwerke eines Tower-Blocks in Enfield am Nordrand Londons, mit Fensterblick auf die Skyline der Metropole an der Themse. Dieses Bild lässt mich nicht los, wenn ich ihr neues Album unter dem Pseudonym Whatever The Weather höre. James, die in den letzten Jahren durch zwei von der Kritik hochgelobte Alben auf Hyperdub zu relativer Berühmtheit kam, hat nun ein Album aufgenommen, auf dem die üblichen Hardcore-Continuum-Referenzen mit Einflüssen aus Ambient Techno und IDM vermischt werden. Trotzdem klingt es am Ende komplett zukunftweisend.
Der Geist von einem anderen James – Richard D. – hängt über dem Album: Kristalline Synthesizer-Akkorde treffen auf Drones und Choräle, Rave-Signale hängen über stotternden Beats, unvermittelt brechen Jungle-Breaks aus. (»17°« hätte man früher vielleicht sogar unter »Atmospheric Drum’n’Bass« einsortiert.) Robert-Miles-mäßiges New-Age-Klavier schwebt vor sphärischen Synthie-Wolken, aus dem Nichts tauchen geisterhaft verfremdete Stimmen und Störsignale auf. Schließlich singt Loraine selbst, auf einem stolpernden Groove aus der Zukunft: »You’ll see the light again«. »Whatever The Weather« ist ein großes Statement einer Künstlerin, die die Konventionen von Genres und Szenen hinter sich gelassen hat und nun wirklich frei aufspielen kann.
Claire Rousay – »Everything Perfect Is Already Here« (Shelter Press, 2022)
Regelmäßige Zen-Sounds-Leser*innen kennen Claire Rousay bereits: Die talentierte Musikerin aus San Antonio, Texas, flutet den Bandcamp-Untergrund seit einigen Jahren mit ihren klugen Kompositionen, die maßgeblich für das Revival der experimentellen Musik in der Generation Z waren: Als Transfrau bringt sie eine bereichernde Perspektive in eine bislang von weißen Cis-Männern dominierte Szene und weckt ein Interesse an obskurer Musique Concrète bei jungen Menschen, die ohne Rousays Werk vielleicht keinen Bezug dazu entwickelt hätten.
Ihr neues Album »Everything Perfect Is Already Here« steht nach Ausflügen in Hyperpop-Gefilde wieder für ihre typische Kombination aus Field Recordings und Elementen der elektroakustischen Komposition. Improvisiert wirkende Melodien und Drones von Geige, Harfe und Klavier verbindet sie mit Gesprächsfetzen und Alltagsgeräuschen. Rousays Longform-Kompositionen sind gemacht für ein konzentriertes Zuhören. Es ist Musik, die emotionale Geschichten erzählt, die mit Worten nicht erzählt werden können. Am Ende ist die Umgebung, in der man sich befindet, immer noch dieselbe, und doch hat sich alles verändert.
Floating Points – »Grammar« (Ninja Tune, 2022)
Sam Shepherd will es richtig wissen. Gerade erst hatte er mit »Vocoder« das veröffentlicht, was man in der Mainstream-Clubmusik wahrscheinlich einen »Banger« nennen würde, da kommt er schon mit der nächsten Nummer daher, die für Gänsehaut-Momente auf den Sommerfestivals sorgen soll. Shawn Reynaldo hat diese aktuelle Entwicklung in seinem First-Floor-Newsletter soeben gut auf den Punkt gebracht: »Underground«-sozialisierte DJs und Produzenten wie Four Tet, Bicep oder Overmono haben es auf den Großraum abgesehen, den sie in der Post-Covid-Welt nicht mehr niederländischen Trance-DJs überlassen wollen. Floating Points reiht sich hier nahtlos ein: Stücke wie »Grammar« weisen genug musikalische Substanz auf, um von den Nerds gefeiert zu werden, und doch haben sie auch die nötige Sprengkraft, um einen Dancefloor auf Ibiza zu zerlegen. Der Beat trägt Elemente von UK Garage/UK Funky, aber auch von klassischem Tech-House – und genau wie »Vocoder« lebt das Stück von einem intelligenten Spiel mit dem Aufbau von Spannung und deren Auflösung, ganz ohne allzu banale Drops.
V.A. – »Field Work« (Between Fields, 2022)
Between Fields ist ein junges Berliner Indie-Label mit Wurzeln in Irland, UK und Bulgarien. Informationen über seine Künstler*innen sind spärlich bis nicht vorhanden. Laut Bandcamp-Bio geht es ihnen um die Verbindung verschiedener Stilrichtungen elektronischer Musik und die Erforschung von Grooves, Stimmungen und Texturen, sowohl für den Club als auch für den Hausgebrauch. So weit, so gut.
Als zweite Katalognummer des Labels erschien im März diese Compilation-EP. Die fünf Stücke darauf erinnern an die klassische »Artificial Intelligence«-Schule, versehen mit einem zeitgemäßen Update. Svetnik und Dalcassian bewegen sich im schwebenden, beatlosen Ambient-Segment, während J. Dennis und Pictureshift entspannte Breakbeats mit organischen Synth-Pads verbinden. So steht diese Musik in einer Traditionslinie mit The Black Dog, dem Katalog von City Centre Offices und den ruhigeren Produktionen von Skee Mask. Großartige, unprätentiöse elektronische Musik, von der ich gerade nicht genug bekommen kann.
Bedanken muss ich mich für den Hinweis beim Kollegen Thaddeus Herrmann, ohne dessen Erwähnung im »Wochenend-Walkman« bei Das Filter ich diese vorzügliche EP mit sehr großer Wahrscheinlichkeit verschlafen hätte.
Re-Issue Corner
Lawrence English – »Viento« (Room40, 2015/2022)
Dieses Album des australischen Ambient-Komponisten Lawrence English enthält weitgehend unbearbeitete Field Recordings von zwei Stürmen in Patagonien und der Antarktis, die English auf einer Expeditionsreise vor über zehn Jahren aufnahm. 2015 veröffentlichte er sie zum ersten Mal, nun liegen sie in einer neu gemischten und gemasterten Fassung vor, und sie klingen gelinde gesagt atemberaubend.
Diese Aufnahmen transportieren die gewaltige, körperliche, geradezu feindselige Kraft der Natur, in diesem Fall des Elements Luft. In der ersten Hälfte aus Patagonien hört man immer wieder das Geräusch von Metall, das von der Wucht des Sturms so intensiv durchgerüttelt wird, dass es ein beängstigendes Geklapper von sich gibt. Die zweite Hälfte aus der Antarktis klingt, als stünde English mitten im Auge eines Hurrikans. Gerade in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden entfalten diese Klänge auf mich trotz ihrer Bedrohlichkeit eine ungemein beruhigende Wirkung. Ich habe ähnlich beeindruckende Naturaufnahmen in der Form noch nicht gehört.
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© 2022 Stephan Kunze