Zen Sounds 019: »Circular Sound In A Burrito Blanket«
Mit Musik von More Eaze, Tomáš Niesner, Ben Vida & Lea Bertucci, Jack J, M. Klein & Steffan de Turck und billy woods
In Erinnerung an Mira Calix (1970-2022)
Im Mutterbauch ist es keineswegs absolut still. Vor kurzem las ich, dass ungeborene Babies neben dem Herzschlag auch den Blutkreislauf der Mutter hören, und zwar in einer konstanten Lautstärke von über 80 dB. Den Klang des fließenden Blutes müsse man sich ungefähr vorstellen wie Synthie- oder Gitarrendrones. Vielleicht lieben manche von uns es deshalb so sehr, sich in Zügen oder Flugzeugen mit lauter Drone-Musik oder White-Noise-Playlisten auf Noise-Canceling-Kopfhörern abzuschirmen – es hat eine ähnliche Wirkung wie diese extraschweren Bettdecken für Autist*innen, in die Glasperlen eingenäht sind. Von Perila und Ulla gibt es einen passenden Songtitel: »Circular Sound In A Burrito Blanket«.
Die Musik, die mich begeistert, hat oft genau diese Burrito-Blanket-Qualität. In einem Interview mit dem Vaporwave-Produzenten HKE las ich einst über die hohe Kunst, Ambient-Musik mit den richtigen Youtube-Videos (auf stumm geschaltet) abzustimmen und daraus die perfekte Abendunterhaltung zu gestalten. Damals waren es Vaporwave-Alben und Videos von Nachtfahrten durch asiatische Großstädte wie Shanghai, Tokyo oder Hongkong; heute höre ich elektroakustische Werke als Begleitung zu Videos von Antarktisexpeditionen, dem Bau von Tiny-Häusern in den kanadischen Bergen oder klassischem #vanlife- und #cottagecore-Content. Nennt es Eskapismus – für mich gibt es gerade in dieser Ära dieses langen, aber unaufhaltsamen Abstiegs nichts heilsameres.
Zen Sounds ab sofort auch im Radio
Im April startet die monatliche Sendung Zen Sounds beim deutschen Ableger des Community-Radios Dublab. Dublab ist die richtige Heimat für meine Sendung. Die Mutterstation in Los Angeles entstand aus der dortigen Beat- und Ambient-Szene. Es ist ein nicht-kommerzielles Internetradio und widmet sich besonders den musikalischen Nischen und dem Untergrund. Beim deutschen Ableger in Köln senden schon viele Freund*innen, z.B. Hubert Daviz, Julian Brimmers, FloFilz, Twit One, Hulk Hodn, die Sichtexot-Crew und Joscha Creutzfeldt.
Die Sendung läuft jeden dritten Montag im Monat von 16-17 Uhr. Die erste Ausgabe wird am 18.04. ausgestrahlt. Ich freue mich sehr darauf und hoffe, ihr schaltet ein!
Album der Ausgabe
More Eaze – »Oneiric« (OOH-Sounds, 2022)
Jungen, queeren Künstler*innen wie Mari Maurice alias More Eaze gehört zur Zeit der experimentelle Bandcamp-Underground. Erst im Februar hatte Maurice ein merkwürdiges Pop-Album mit ihrer Freundin Claire Rousay veröffentlicht. Auf »Never Stop Texting Me« mischten sie Elemente von Soundcloud-Rap aus Florida über 2000er-Jahre-Emo-Rock bis hin zum Hyperpop von PC Music. Das Ergebnis sagte mir, wenn ich ehrlich bin, nicht besonders viel. Zu meinem Glück gehen beide Künstlerinnen auf ihren neuen Soloalben zurück zu ihrem charakteristischen Soundentwurf, der gern als »Emo-Ambient« bezeichnet wird.
Auf Rousays »everything perfect is already here« müssen wir noch drei Wochen warten, aber »Oneiric« ist schon mal ein kleiner Geniestreich, mit dem Maurice die narrativen Möglichkeiten ihres Genres ausreizt. Aus Alltagsaufnahmen, Synthesizer-Drones, Orchesterklängen und allerlei anderen Geräuschquellen erschafft die Texanerin sechs Song-Collagen, die die Hörer*innen in einen surrealen, traumähnlichen Zustand versetzen. Sie wurden laut Aussage der Künstlerin in einem Zustand komponiert, als sie intime Gefühle zu einer ihr nahestehenden Person entwickelte, diese jedoch noch nicht kommunizieren konnte.
Das fast elfminütige Stück »The Neighborhood« handelt von einem bekifften Spaziergang durch die eigene Wohngegend; es vertont den David-Lynch-Moment, wenn sich hinter dem Vertrauten plötzlich rätselhafte Abgründe auftun und seltsame Wesen in unbekannten Sprachen in unsere Ohren flüstern. Rousay ist auf dem Song »Heartbreaker« dabei, der an den abstrakten Dub-Techno von Space Afrika erinnert. »Crii« klingt, als hätte Peggy Gou stoned mit einer MPC und Autotune herumgespielt: Eine Mischung aus »Café del Mar« und »808s & Heartbreak« für die queere Generation Z. Ich könnte noch mehr Referenzen von ECM-Jazz bis kranky-Artrock bemühen, aber letztlich geht es nur darum, dass Maurice etwas besonderes gelungen ist – aus ihren disparaten Interessen und Einflüssen das bisher definitive Statement ihrer künstlerischen Laufbahn zu erschaffen.
Tomáš Niesner – »Bečvou« (Warm Winters Ltd., 2022)
Als der tschechische Gitarrist Tomáš Niesner in den Nachrichten hörte, dass eine große Chemiefirma weite Teile des Flusses Bečva vergiftet hatte, an dem er Teile seiner Kindheit verbracht hatte, beschloss er, inspiriert von Werner Herzogs »Vom Gehen im Eis«, eine spirituelle Reise zu unternehmen und das Leid des Flusses »wegzuwandern«. Auf der zehntägigen Wanderung entlang der Bečva nahm der Musiker, der heute in Brno lebt, jede Menge Field Recordings auf. Auf seinem neuen Album »Bečvou« schwebt seine gezupfte Akustikgitarre über diesen Naturaufnahmen.
Es ist ein melancholisches, aber auch ein hoffnungsvolles Stück Musik, das Niesner aus seiner Reise zu Fuß destilliert und nun über das Label Warm Winters Ltd. veröffentlicht hat. »Everything Warm Winters Ltd does is amazing«, sagt Mari Maurice in der April-Ausgabe von The Wire, und sie hat recht: Kajsa Lindgren, Marta Forsberg, Martyna Basta, die Re-Issue von Nate Scheibles »Fairfax« – seit 2019 hat das DIY-Label aus Bratislava eine Serie erstklassiger Alben in kleinen physischen Auflagen veröffentlicht, die mit »Bečvou« nicht abreißt. Im Gegenteil – Niesners feinfühlige Ode an einen osttschechischen Fluss gehört zur schönsten Musik, die dort bislang erschienen ist.
Ben Vida & Lea Bertucci – »Murmurations« (Cibachrome Editions, 2022)
Irgendwann im zweiten Pandemie-Jahr fanden sich Ben Vida und Lea Bertucci auf verschiedenen Seiten desselben Bergs in Upstate New York wieder, zwei Autostunden nördlich ihrer Heimatstadt, in deren experimenteller Musikszene beide sonst verkehren. Aus ersten Sessions entspann sich ein Dialog musikalischer Sprachen und Techniken: Bertucci spielte Versatzstücke auf Bassklarinette, Saxofon oder Blockflöte ein, die Vida anschließend auf dem modularen Synthesizer manipulierte; Bertucci wiederum nahm Tape-Manipulationen in Echtzeit vor und fügte dem Material so eine weitere Abstraktionsebene hinzu. Auch die Stimmen beider Künstler*innen kamen zentral zum Einsatz.
Auf diesem Album werden wir Zeuge davon, wie zwei erfahrene Protagonist*innen der elektroakustischen Musikwelt in einer Ausnahmesituation in den Austausch treten. Um es ganz klar zu sagen: »Murmurations« ist kein Easy-Listening-Ambient. Es ist ein anspruchsvolles Werk, auf das man sich einlassen muss und das mit expressiven, überraschenden Improvisationen so manche Hörgewohnheit herausfordert. Wer sich dieser Musik jedoch mit voller Aufmerksamkeit widmet, wird reich belohnt. Vida und Bertucci erschaffen facettenreiche Texturen und erforschen die Möglichkeiten, die sich aus der Kombination ihrer erprobten Techniken ergeben. Es ist bereichernd und inspirierend, ihnen dabei zuzuhören.
Jack J – »Opening The Door« (Mood Hut, 2022)
Sieben Jahre ist es her, dass Jack Jutson zuletzt Musik als Solokünstler veröffentlicht hat: Damals, in den Jahren 2014/2015, gehörte das Mood-Hut-Kollektiv aus Vancouver mit seinem luftigen Lo-Fi-House zu den angesagtesten Indie-Labels der Dance-Musik. Die beiden Jack-J-Maxis »Looking Forward To You« und »Thirstin’« gehören bis heute zum stärksten Material des Labelkatalogs. Wie sich später herausstellte, missverstand die Welt seine Musik grundlegend: Jutson wollte keinen House produzieren, sondern sah seine Songs als Produkt einer imaginären Britfunk-Revival-Band, in der er selbst alle Instrumente spielte.
Wer auf Jack Js Debütalbum »Opening The Door« entspannte Four-to-the-floor-Hymnen für die wiedereröffneten Dancefloors sucht, wird enttäuscht. Manchmal ist es gut, wenn man seine Erwartungen vergisst und einen offenen Geist bewahrt. Die acht neuen Stücke, die in einem Zeitraum von vier Jahren zwischen 2015 und 2019 entstanden sind, bewegen sich – ähnlich wie seine Sendung auf NTS Radio – zwischen Yacht Rock, Synthie-Pop, balearischen Dub-Beats und Ambient Jazz. Das Tempo drosselt Jutson immer weiter, vor allem auf der zweiten LP-Seite. Was jedoch gleich geblieben ist: der ruhige kanadische Riviera-Vibe, in den sich stets eine süßliche Melancholie mischt. Denn der Sommer währt niemals ewig.
M. Klein & Steffan de Turck – »A New City« (Het Generiek, 2022)
Entdeckt habe ich dieses obskure Tape über einen Soundcloud-Mix von More Eaze mit dem Titel »How To Become A Fossil«, für den sie ein altes Stück vom Penguin Café Orchestra mit den Field Recordings von »A New City« mischte. Eine kurze Discogs-Recherche offenbart: Steffan de Turck alias staplerfahrer ist seit den 1990er-Jahren in der Noise-Szene der Niederlande aktiv, Michiel Klein spielt sonst in DIY-Bands zwischen Post-Punk und experimentellem Rock. Gemeinsam haben sie aus Field Recordings und Keyboard-Overdubs zwei viertelstündige Sound-Collagen montiert: »A New City« und »Two Mountains«.
Diese 30 Minuten Musik haben genau das, was ich eingangs mit »Burrito-Blanket-Qualität« meinte. Gerade auf Kopfhörern entfalten beide Collagen auf mich eine ungeheuer beruhigende, einhüllende Wirkung. Gleichzeitig folgen sie einer losen narrativen Struktur, die sich nicht sofort erschließt und vor dem inneren Auge doch einen surrealen, abstrakten Film entstehen lässt. Eine Deutungsmöglichkeit liefern die Liner Notes der niederländischen Künstlerin Bernice Nauta, die die Stadt als architektonisches Mosaik aus Vergangenheit und Gegenwart betrachten:
»When you walk through a city, you might pass by 650-year-old Middle Ages buildings. 70-year-old Modernist buildings and construction works of new buildings. Walking through cities is like walking through all these timezones in one moment.«
Bonus Beats
billy woods – »Aethiopes« (Backwoodz Studioz, 2022)
Streitbare These: billy woods ist der wichtigste Rapper der letzten Dekade. Jedenfalls wenn man sich primär für den alternativen Indie-Rap zwischen »drumless« Lo-Fi-Loops und dem Erbe von Labels wie Def Jux und Anticon interessiert. Künstler wie Earl Sweatshirt oder Navy Blue sehen woods als Mentor und Inspiration. Sein ausufernder Katalog von Soloalben und Kollabo-Projekten ist ein schier unerschöpflicher Quell innovativer Konzepte und Experimente. woods hielt den experimentellen Untergrund in einer Zeit am Leben, als sich »progressive« Rap-Kritiker*innen lieber den Untiefen des Pop-Mainstreams zuwendeten.
billy woods’ dichter Rap-Stil lebt von seinem sonoren, kommandierenden Organ, einer bildhaften, abstrakten Lyrik und einem freien, unberechenbaren Flow. Seine Texte reihen rätselhafte Aphorismen mit Verweisen auf Populärkultur, Literatur, Kolonialgeschichte und Hip-Hop-History aneinander. Nach kompletten Projekten mit Produzenten wie Kenny Segal (»Hiding Places«, 2019) oder The Alchemist (»Haram« mit Elucid als Armand Hammer, 2021) wurde »Aethiopes« vollständig von DJ Preservation produziert, der bislang vor allem an der Seite von Yasiin Bey oder Ka (»Days With Dr. Yen Lo«, Earl Sweatshirts Album des Jahres 2015) auftauchte. Der passionierte Digger versorgt woods mit psychedelischen, düsteren Jazz-Loops, die perfekt zu dessen poetischem Storytelling passen.
Für Rap-Nerds enthält »Aethiopes« jede Menge schöne Referenzen, zum Beispiel einen Song mit El-P und Breeze Brewin, die diese Bewegung mit ihren Crews Company Flow und The Juggaknots einst lostraten und gemeinsam bei den Indelible MCs rappten. Features mit Untergrund-Veteranen wie Mike Ladd und Despot reihen sich an Auftritte jüngerer Fackelträger wie Gabe Nandez oder Fatboi Sharif, auch Indie-Ikonen wie Boldy James und Denmark Vessey erweisen woods ganz selbstverständlich die Ehre. Dem gelingt das Meisterstück, aus all diesen Gastversen und den weirden Free-Jazz-Beats von Preservation ein kohärentes Werk zu kompilieren, ohne die kreative Freiheit in einem überbordenden Konzept zu ersticken. »Aethiopes« ist schlicht und einfach ein weiteres hervorragendes Album in einem Ausnahme-Katalog eines Ausnahme-Künstlers.
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© 2022 Stephan Kunze