Zen Sounds 017: »Music From The Accident«
Auf seinem neuen Album verarbeitet der New Yorker Avantgarde-Drummer John Colpitts ein traumatisches Erlebnis und feiert seine Rückkehr ins Leben
Am frühen Morgen des 28. Februar 2018 sitzt John Colpitts in einem Taxi zum Flughafen von Los Angeles, um einen Nachtflug nach New York zu erwischen. Der Schlagzeuger war nur für 30 Stunden an der Westküste, um Spuren für ein Album der Band Black Mountain einzuspielen. Die Sessions sind nicht gut gelaufen. Zwei Tourneen liegen vor ihm, keine davon wird ihm Geld einbringen. Colpitts ist Berufsmusiker, Mitte 40, mit einem unfassbaren Arbeitspensum, und doch kommt er nur gerade so über die Runden.
Im Taxi auf dem Weg zum Flughafen denkt Colpitts darüber nach, was bei den Sessions schief gelaufen ist. Er ist spät dran, das Taxi fährt schnell, doch einem anderen Fahrer, der betrunken und auf Pillen hinterm Steuer sitzt, nicht schnell genug. Plötzlich, ein lauter Knall, und danach – nur noch Schmerz.
Heute teilt sich Colpitts’ Zeitrechnung in die Zeit vor dem Unfall und die Zeit nach dem Unfall. Nach dem Unfall, so berichtete er dem Magazin The Quietus, schien sich sein chaotisches Leben wie von magischer Hand zu ordnen: Zunächst stand die Heilung im Mittelpunkt, dann heiratete Colpitts und wurde Vater. Auch in anderen Bereichen rückten die Dinge in Perspektive. Sein Alltag entschleunigte sich merklich. Mit »Music From The Accident« lässt er einen transformativen Lebensabschnitt hinter sich.
Colpitts überlebte den Auffahrunfall mit schweren Verletzungen. Operiert werden musste er nicht, doch in den folgenden Monaten litt er zuerst unter chronischen Schmerzen und dann unter dem Entzug von den Opioiden, die ihm dagegen verschrieben worden waren. Er konnte nicht laufen und kaum schlafen. Zeitweilig glaubte er, nie wieder Musik machen zu können. Seit 25 Jahren hatte er an vorderster Front der experimentellen Avantgarde gearbeitet, als Kid Millions, mit Projekten wie Man Forever und seiner Band Oneida, aber auch mit Ikonen der Neuen Musik wie William Basinski und Laurie Anderson. Nun stand er an einem Wendepunkt. Gleichzeitig hätte alles viel schlimmer kommen können.
Auf »Music From The Accident« verarbeitet Colpitts seinen Genesungsprozess. Das Album war, wie man sich vorstellen kann, eine schwere Geburt. Monatelang arbeitete er mit seinem Engineer Greg Fox in dessen Heimstudio daran, als es ihm endlich wieder möglich war. Nur drei Stücke hatten sie am Ende im Kasten – knapp über eine halbe Stunde Material, das Colpitts bei seinem Label Thrill Jockey abgab und hoffte, dass es zur Veröffentlichung reichen würde.
Ursprünglich hatte er eine Multimedia-Show über den Unfall und die Zeit danach erdacht. Daraus stammen Teile der Musik, die nun auf dem Album gelandet sind. Nicht darauf gelandet sind die narrativen Elemente, in denen Colpitts vom Unfall und vom Prozess seiner Genesung erzählt. Die Entscheidung, diese Spoken-Word-Passagen auf dem Album wegzulassen, halte ich für richtig.
Gute Musik braucht keine Backstory, um sich interessant zu machen. Auch dieses Album braucht sie nicht. Als ich es zum ersten Mal hörte, wusste ich nichts über seine Geschichte, und doch zog es mich sofort in seinen Bann. Der Bezug zu den realen Ereignissen in Colpitts’ Leben eröffnet noch eine weitere Dimension, einen weiteren Zugang und weitere Deutungsmöglichkeiten. Doch eine konkrete narrative Struktur trägt immer auch die latente Gefahr der Banalisierung und Verkürzung in sich. Wie Brian Eno einmal sinngemäß sägte, trägt instrumentale Musik immer auch ein Geheimnis in sich, das durch Worte zerstört werden kann.
I. Bread (11:03)
Das erste Stück auf »Music From The Accident« verzichtet komplett auf Colpitts’ eigentliches Instrument, das Schlagzeug, wie auch auf jegliche Form von Percussion. Stattdessen besteht es aus analogen, meditativen Synthie-Klängen, die mich an elektronisch orientierte Krautrock-Bands wie Cluster/Harmonia oder Ash Ra Tempel erinnern.
»Bread« ist die Antithese zum Loop – ein sich stetig wandelnder, mäandernder Klangstrom, der an- und abschwellt und dabei unberechenbar bleibt. Keine Passage scheint sich an irgendeiner Stelle zu wiederholen. Sinnbildlich könnte das Stück für die ersten Monate nach dem Unfall stehen, für eine Zeit der Innenschau und der Akzeptanz, für eine erzwungene Entschleunigung.
Colpitts sagt, er fühlte sich zu dem Ambient-Stück von Erinnerungen an Nachtfahrten durch seine Heimatstadt New York inspiriert, in jener blauen Stunde direkt vor Sonnenaufgang. Auch der Unfall war am frühen Morgen passiert.
II. Up And Down (5:27)
Nach einem Drittel des Albums nimmt Colpitts seine Drumsticks zum ersten Mal in die Hand. Er zögert, stolpert, findet dann doch seinen Weg. Ein komplexer Rhythmus nimmt immer weiter Form an. Die Virtuosität kehrt zurück. Unsicherheit weicht Spielfreude, verkörpert durch unkonventionelle Taktarten.
Zu den Drums, die im Mittelpunkt des Stückes stehen und sehr trocken mikrofoniert wurden, gesellen sich bald vereinzelte, tropfenartige Synthesizer-Sounds. Ein dumpfes Störgeräusch bildet eine Art Bassline. Mehr braucht es nicht.
»Up And Down« repräsentiert den mühsamen Beginn des Kampfes zurück ins Leben. Gleichzeitig markiert das Stück eine wiedergewonnene Freude am Experiment, an der Sprache der Musik an sich und daran, mit ihr immer wieder neue Wege zu gehen.
III. Recovery (16:34)
Das dritte Stück steht schließlich für die ekstatische Feier der vollständigen Rückkehr in die Musikwelt – eine wilde, intensive Improvisation mit Jessica Pavone, einer festen Größe der New Yorker Avantgarde-Jazz-Szene, an der Bratsche.
Pavone beschäftigt sich laut eigener Aussage schon lange mit der heilenden Kraft von Klängen und darauf basierenden alternativen Therapien. Für »Recovery« erschafft sie auf ihrem Instrument unorthodoxe Texturen, die in der Kombination mit Colpitts freiem, jazz-beeinflussten Spiel und den beschwörenden Drones etwas ungeheuer lebendiges entstehen lassen.
In »Recovery« geht es nicht nur um die Wiederherstellung der Gesundheit des Protagonisten, sondern auch um die erwähnte, beinahe magische Korrektur seiner Lebensprioritäten. In der chinesischen Philosophie würde man von der Kraft des Tao sprechen, der sich Colpitts zu einem bestimmten Zeitpunkt ergeben zu haben scheint. Und auch wenn sich die zunächst chaotisch wirkende Komposition stets auf der Kippe zum Kollaps bewegt, stellt sich nach wenigen Minuten eine seltsam beruhigende Wirkung ein, die ihre Kraft aus sich anziehenden Energien zieht, fast wie die Wechselwirkung zwischen den Hadronen in einem Atom.
»Recovery« ist ein beeindruckendes Stück; kein Easy Listening und definitiv keine Unterhaltungsmusik. Gleichzeitig lässt es sich hören wie Ambient. Es ist Klang, der einfach nur existiert, ohne dass er etwas von mir will oder fordert – und der mich mehr als eine Viertelstunde mit offenem Mund dasitzen lässt, wegen der beeindruckenden Verbindung von Virtuosität und Ausdruck.
Die drei Stücke auf »Music From The Accident« unterscheiden sich auf musikalischer und energetischer Ebene sehr stark voneinander, und doch höre ich das Album meistens am Stück. Die Musik entfaltet sich logisch, sie steht zueinander in einer Verbindung, die sich durch ihre Entstehungsgeschichte ergibt. Dieses Album ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig und bereichernd der Kontext für die Rezeption von Kunst sein kann – und nicht zuletzt auch dafür, wie sich aus traumatischen Erlebnissen große Kunst schöpfen lässt, die kathartisch und heilsam für Künstler*in und Hörer*in gleichermaßen wirkt.
»Music From The Accident« von Colpitts ist am 18.03.2022 auf Thrill Jockey erschienen. Physische Exemplare erscheinen am 22.04.2022.
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© 2022 Stephan Kunze