Zen Sounds 016: »The Sun Rises In The East«
Mit Musik von Jeremiah Chiu & Marta Sofia Honer, Astrid Øster Mortensen, Floating Points, Warpaint und Sensational ft. Planteaterz
In den letzten Wochen las ich ein Buch des Sozialwissenschaftlers Arthur C. Brooks, und ein Gedanke daraus treibt mich seitdem um: Seine Unterscheidung einer »westlichen« und einer »östlichen« Vorgehensweise bei der Kreation von Kunst und Musik.
Ein westlicher Maler, so Brooks, sieht eine leere Leinwand vor sich, die er mit den Einfällen seines Geistes befüllt; ein östlicher Bildhauer sieht die Skulptur, die bereits im rohen Stein vorhanden ist, und befreit diesen durch seine Arbeit lediglich von jenen Elementen, die nicht zur Skulptur gehören.
Der westliche Künstler fügt also etwas hinzu, während der östliche etwas weglässt. Dieser Umstand bezeichnet nach Brooks’ Theorie auch den Unterschied zwischen westlicher klassischer Musik und indischen Ragas. Westliche Klassik stapelt die Klänge und Melodien übereinander, bis sie »richtig« klingt, weshalb zur Aufführung einer Brahms-Sinfonie ein riesiges Orchester erforderlich ist. Ein indisches Raga hingegen lässt alle Klänge und Melodien weg, die die wahre Essenz der Musik verschleiern, so dass nur ein kleines Ensemble benötigt wird.
Das »östliche« Verständnis von Kunst sieht vor, dass wir etwas Bestehendes betonen. Das »westliche« Verständnis hingegen hatte als Idealvorstellung stets das (weiße, männliche) Genie, das seine Kunst aus dem Nichts erschafft.
Der Produzent Rick Rubin ließ auf die Plattencover der Alben, die er produzierte, stets den Slogan »reduced by Rick Rubin« drucken. Rubin war bekannt dafür, von allen Spuren eines Songs so viele zu löschen, dass nur noch eine Handvoll übrig blieb – daher sein Ruf als »Reducer«. Rubin weiß instinktiv, welches die essenziellen Bestandteile einer Komposition sind und welche Elemente nur da sind, um die Hörer*innen abzulenken. Insoweit ist er vielleicht eher einem »östlichen« Verständnis von Musikproduktion verpflichtet.
Album der Ausgabe 1
Jeremiah Chiu & Marta Sofia Honer – »Recordings From The Åland Islands« (International Anthem, 2022)
Diese Woche haben es mir zwei Alben besonders angetan, die zufälligerweise beide auf skandinavischen Inselgruppen entstanden sind.
Jeremiah Chiu und Marta Sofia Honer reisten 2017 zum ersten Mal auf die Åland-Inseln, ein zu Finnland gehörendes Archipel in der nördlichen Ostsee. 2019 kehrten sie noch einmal zurück und spielten diesmal ein Konzert in der mittelalterlichen Kirche von Kumlinge, einem 300-Seelen-Dorf auf einer der 60 bewohnten Inseln. Chiu spielte Orgel, Klavier und Synthesizer, Honer – die als Session-Musikerin u.a. schon für Beyoncé, Khalid oder Ariana Grande gespielt hat – Bratsche und Glockenspiel. Die Aufnahmen von diesem Konzert editierten und verfeinerten sie im Nachhinein mit Overdubs, Field Recordings und Sprachnotizen von ihren Reisen.
Diese Musik klingt wie die Natur, in der sie entstanden ist – streckenweise zauberhaft und von strahlender Schönheit wie im nordischen Sommer, dann wieder düster und schwer wie der Winter in einer Region, in der über Monate die Sonne kaum aufgeht. Die Welt, die das Album beschreibt, erscheint mir gleichzeitig tief vertraut und unendlich fremd. Ich bin an der deutschen Ostseeküste aufgewachsen und finde Momente in dieser Musik, die mich an meine Kindheit erinnern, an lange Wanderungen am Meer und Herbstspaziergänge im Wald. Es ist Musik von einer besonderen Ursprünglichkeit, die ganz tief in mir etwas anrührt.
Album der Ausgabe 2
Astrid Øster Mortensen – »Skærgårdslyd« (Discreet Music, 2022)
Offenbar wuchs in den letzten Jahren eine kleine DIY-Szene rund um den Göteborger Plattenladen Discreet Music, der auch als Indie-Label fungiert. Eine Künstlerin aus diesem Mikrokosmos ist die rätselhafte Astrid Øster Mortensen. Ihr Debütalbum »Gro Mig En Blomst« avancierte im Lauf des letzten Jahres zum Geheimtipp; ihr zweites Album wurde nun sogar von Philip Sherburne für Pitchfork besprochen. Nach wie vor sind Informationen über die Musikerin rar – sie stammt wohl aus Dänemark, zog erst vor zwei Jahren nach Göteborg und kam über den Plattenladen in Kontakt mit der erwähnten lokalen Szene. Einer ihrer Songs heißt »A shy kind of being«; ob das als Selbstbeschreibung gemeint ist, wissen wir nicht.
Was dieses Album mit »Recordings From The Åland Islands« verbindet: Mortensen nahm »Skærgårdslyd« im Göteborger Schärengarten auf, einem autofreien Archipel südwestlich der Stadt, wo sie laut Labelinfo offenbar in der Altenpflege tätig war. Ich kenne diese Inseln, weil sie das Erste sind, wenn man morgens sieht, wenn man mit der Stena-Line-Fähre über Nacht von Kiel nach Göteborg fährt. Die dort entstandenen Lo-Fi-Aufnahmen klingen extrem handgemacht, spontan und improvisiert; deutlich hörbare Hintergrundgeräusche (Vögelgezwitscher, Schritte, Tellergeklapper) sind kein Unfall, sondern gehören zum Geist des Werkes. Diese stimmungsvollen Vignetten bestehen meist nur aus Gitarre, Orgel, Klavier und Field Recordings; besonders intim sind jene Stücke geraten, bei denen Mortensens zarte Stimme zum Einsatz kommt und die an Groupers Frühwerk oder an den Outsider-Folk von Maxine Funke erinnern.
Floating Points – »Vocoder« (Ninja Tune, 2022)
Im letzten Jahr versüßte mir Sam Shepherd alias Floating Points den Lockdown mit dem introspektiven Ambient-Jazz-Album »Promises«, das er zusammen mit Saxofonlegende Pharoah Sanders und dem London Contemporary Orchestra eingespielt hatte. Nun scheint es, als wolle Shepherd das Ende der Pandemie vertonen, pünktlich zur Wiedereröffnung der Clubs in Berlin: »Vocoder« ist eine Hymne für die Dancefloors, die viel zu lang leer bleiben mussten.
Stilistisch ist der Track ein Rückgriff auf sein zweites Album »Crush« (2019), aber auch auf die EPs vor dem Debütalbum »Elaenia« (2015). Shepherd hatte damals schon die 4/4-Beats seines Frühwerks weggelassen und sich mit elektroakustischer Komposition und Ambient-Musik beschäftigt. »Vocoder« hingegen zielt nun wieder einmal mit voller Wucht auf die großen Soundsystems, klingt aber auch auf Kopfhörern hervorragend. Der Track spielt über siebeneinhalb Minuten mit dem permanenten Aufbau und der Lösung von Spannung – von dem Moment, wenn die erste Kickdrum eines reduzierten UK-Garage-Rhythmus loslegt, entfaltet sich die Komposition immer wieder neu, wobei das Hauptmotiv, ein zerhacktes Vocalsample, das vermutlich mit dem namensgebenden Vocoder bearbeitet wurde, stets wiederkehrt. Eine meisterhafte Lektion in Track-Wissenschaft.
Warpaint – »Champion« (Heirlooms, 2022)
»Radiate Like This«, das vierte Album der Indie-Ausnahmeband Warpaint, erscheint nach sechsjähriger Pause im Mai. Die vier Musikerinnen sind jetzt Ende 30, Anfang 40, und in den letzten Jahren spielten andere Dinge als die Band die Hauptrolle in ihrem Leben: Kinder, Umzüge, Jobs und Soloprojekte.
Vor mittlerweile 18 Jahren gründeten sich Warpaint in Los Angeles. Als ihre Debüt-EP »Exquisite Corpse« (2008) erschien, wurden sie häufig mit The xx verglichen, mit denen sie in der Folge auch auf Tour gingen. Auf drei Alben definierten sie in den nächsten Jahren ihren charakteristischen Sound: »The Fool« (2010) war die Blaupause für ihren psychedelischen Indie-Rock mit New-Wave- und Dreampop-Einflüssen, auf »Warpaint« (2014) kamen Synthies und Drum Machines dazu, für »Heads Up« (2016) schrieben sie ein paar der eingängigsten Songs ihrer Karriere.
Über all diese Jahre wurden aus den vier jungen Frauen in weiten T-Shirts und löchrigen Jeans, die sich Mitte der nuller Jahre in Los Angeles zusammengefunden hatten, erwachsene Künstlerinnen, die sich auch jenseits des Kollektivs kreativ ausleben wollten. Bassistin Jenny Lee Lindberg und Gitarristin Theresa Wayman veröffentlichten Soloalben; Schlagzeugerin Stella Mozgawa spielte derweil auf Alben von Kurt Vile bis Kim Gordon und hat neuerdings ein elektronisches Projekt mit Ex-Anticon-Producer Boom Bip namens belief am Laufen.
Ich habe in den letzten Tagen viele Live-Performances auf Youtube angeschaut, aus den unterschiedlichsten Phasen der Band. Zwischen diesen vier Frauen besteht auf der Bühne eine magische Chemie, was Warpaint zu einem raren Beispiel jener Bands macht, die live noch besser klingen als auf Platte. Sie erinnern mich insofern an eine Mischung aus Can, Talking Heads und The Cure zu ihren jeweils besten Zeiten. Ja, in diesen Superlativen muss man von Warpaint sprechen. Beispiele gefällig? Hier oder hier oder hier. Ich habe mich im November 2016 von ihren Fähigkeiten überzeugen können, als sie im Berliner Astra spielten.
Die Rhythmussektion aus Stella Mozgawa und Jenny Lee Lindberg bietet das motorisch stabile, präzise und doch verspielte Fundament. Mit Emily Kokal und Theresa Wayman haben Warpaint gleich zwei Gitarristinnen und Sängerinnen, die den Sound der Band durch ihr atmosphärisches Spiel und ihre Gesangsharmonien prägen, ohne dass sich eine von beiden klar in den Vordergrund drängen würde (wobei Emily die Sängerin mit der größeren Vocal-Range ist, aber Theresas dunklere Stimmfarbe ist ein wichtiger Teil des charakteristischen Bandsounds, besonders wenn sie bestimmte Passagen mehrstimmig singen).
Während der Pandemie begannen Warpaint mit den Arbeiten an ihrem vierten Album. Die Aufnahmen wurden erschwert durch die Reisebeschränkungen, da Stella Mozgawa inzwischen wieder in Australien lebt. Die vier Frauen schrieben alleine in ihren Heimstudios an den Songs und schickten sich unvollendete Stücke hin und her. Nimmt man die erste Single »Champion» zum Maßstab, so hat diese beschränkte Arbeitsweise offensichtlich zu einer fokussierteren Produktion geführt. Wobei die Musikerinnen auch der Möglichkeit eine realistische Chance eingeräumt haben, dass es kein Warpaint-Comeback geben würde.
Doch die Chemie stimmte offensichtlich noch, das Album ist offenbar fertig geworden, und »Champion« begleitet mich seit Wochen durch den Alltag. Es ist eine selbstermächtigende, positive und dennoch latent melancholische Hymne, die mir mit ihrem illusionslosen Optimismus durch diese harten, schwierigen Zeiten hilft.
Bonus Beats
Sensational ft. Planteaterz – »The Pearl« (Naff, 2022)
Die wirre Geschichte des inzwischen 47-jährigen Rappers Sensational erzählt die Dokumentation »The Rise And Fall And Rise Of Sensational« (2010). Zu bescheidenem Ruhm kam der New Yorker in der Indie-Rap-Szene der späten 1990er-Jahre, im Dunstkreis des Illbient-Labels WordSound. Seine kratzige Stimme, die improvisiert wirkenden Stream-of-Consciousness-Reime und die abstrakten Beats, für die er gern Alltagsgeräusche samplete, bescherten ihm eine kleine Fanbase, vor allem in Europa und Japan. Leider rutschte er für einige Jahre in Drogensucht und Obdachlosigkeit ab, bevor er sich berappelte und seine Musikkarriere wieder in Gang brachte – Internet sei Dank. Seitdem veröffentlicht Sensational in sehr unregelmäßigen Abständen Musik, meist Kollaborationen mit freigeistigen Produzenten aus aller Welt.
So ist es kaum verwunderlich, dass eine neue EP des mythischen New Yorker MCs gerade über das kanadische IDM-Label Naff erschienen ist. Die vier Tracks entstanden 2021 in Kollaboration mit den Planteaterz. (Ich wette, dass sich hinter diesem Pseudonym die Naff-Betreiber Priori und Ex-Terrestrial verbergen.) Deren extrem reduzierte, minimalistische Beats erinnern an Sensationals eigene Instrumentals auf legendären Lo-Fi-Alben wie »Loaded With Power« (1997). Sensational macht darauf, was er seit 25 Jahren so macht – er lässt die Worte frei fließen, und es klingt gut, fast wie von selbst. Er gehört zu den wenigen Rappern, die auch das sprichwörtliche Telefonbuch vorlesen könnten.
Zum Release der EP haben die Planteaterz auch einen Mix für NTS Radio mit aktueller und älterer Rapmusik zusammengestellt, die ihren speziellen Zugang zu diesem Genre gut umreißt – von Blackhaine bis Roc Marciano, Earl Sweatshirt bis Babyfather, Scienz of Life bis Pink Siifu. Tatsächlich passt Sensationals Musik erstaunlich gut in den neuen experimentellen Hip-Hop-Underground der letzten Jahre. »The Pearl is a sound, a world, and definitely a vibe.«
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© 2022 Stephan Kunze