Zen Sounds 015: Interview mit V.Raeter
Ein Gespräch über ein Leben als Außenseiter in der Berliner Hip-Hop-Szene und Eigenständigkeit in einer musikalischen Nische, die zur Uniformität neigt
Es muss bald 15 Jahre her sein, dass mir V.Raeter zum ersten Mal über den Weg lief. Seitdem sind wir lose in Kontakt geblieben, haben uns immer wieder getroffen, bewegten uns in ähnlichen Kreisen. Stets hegte ich eine tiefe Sympathie für den leicht verschroben wirkenden, schüchternen DJ, Grafiker und Produzent aus Prenzlauer Berg. Mit dem harten Straßenrap der Hauptstadt hatten wir beide nie viel zu tun; stattdessen bewegten wir uns lange in einer Gemeinschaft, die sich bewusst als Gegenbewegung zum dominanten Hip-Hop-Bild verstanden hat.
Früher gehörte V.Raeter zu Crews wie Funkviertel und Sichtbeton und war Mitbetreiber des Labels Spoken View; heute ist er als DJ mit Ecke Prenz unterwegs, legt für deutsche Alternative-Rapper wie Dexter und Fatoni auf und hat im Lockdown seine Produzentenkarriere in Schwung gebracht: Mit »Alltimers« (2020) hielt er Einzug in die großen Lofi-Listen der Streaming-Dienste, was sich in mittlerweile 10 Millionen Streams für sein erstes Soloalbum niederschlug. Nun erschien über das Kabul-Fire-Label der Nachfolger »Sunday On A Monday«. Ein Gespräch mit V.Raeter über ein Leben als Außenseiter in der Berliner Hip-Hop-Szene und Eigenständigkeit in einer musikalischen Nische, die zur Uniformität neigt.
Was sind deine ersten musikalischen Erinnerungen aus deiner Kindheit?
Ich habe schon oft über die Frage nachgedacht, warum ich Musik gut finde. Meine Familie ist eigentlich nicht sonderlich musikalisch. Eine »Karneval der Tiere«-Schallplatte ist bei mir hängengeblieben, auf der B-Seite war »Peter und der Wolf«. Außerdem haben mich Film- und Serienmusiken sehr geprägt. Die Titelmusik von »Raumschiff Enterprise« oder »Ein Colt für alle Fälle« – da saß ich mit Gänsehaut vorm Fernseher, wenn die Serie angefangen hat. Dann gab es diese 1970er-Jahre-Polizeiserien, wo ich mich gefragt habe, wie man die Musik im Hintergrund bei den Verfolgungsjagden nennt – das war dann wohl Funk. In Verbindung mit Hip-Hop hat sich mir da ein Universum geöffnet.
Du bist im Ostberlin der Nachwendezeit aufgewachsen. Kannst du mal beschreiben, in welchem Umfeld du Hip-Hop entdeckt hast?
Es gab Klassenkameraden, die Body Count oder Wu-Tang Clan gehört haben. Das war mir aber immer zu krass. Cypress Hill war wichtig, »Black Sunday« meine erste Hip-Hop-CD. Später fand ich Fettes Brot oder Blumentopf gut, weil die nett waren und ich auch eher so ein ängstlicher Dude bin. Aus dem Fernsehen habe ich zwei Folgen der VIVA-Sendung »Freestyle« auf Videokassette aufgenommen. Die habe ich sehr oft angeschaut. Deswegen hab ich mir auch zwei Plattenspieler und einen Mixer besorgt. Dann standen die Geräte da, aber das lief nicht direkt so wie bei »Freestyle« – du bist halt nicht sofort so ein DJ Stylewarz. Über einen Mitschüler und Freund, der auch gerappt hat, habe ich Marcello und Julius, also V-Mann [Hiob, Anm. d. Verf.] kennengelernt. Zu viert haben wir in meinem Kinderzimmer angefangen, Krach zu machen.
Das waren die Anfänge von Funkviertel.
Richtig. Es gab damals noch einen anderen Bandnamen, den ich unerwähnt lassen möchte. Ein Cousin meines Onkels hat bei einem Mailorder aus dem Ruhrgebiet gearbeitet, und der hat meinem Onkel viele Promoschallplatten gegeben, vor allem Techno, aber auch ein wenig Hip-Hop. So bin ich an die »Schlüsselkind«-Maxi von Cora E. gekommen, an »Criminology« von Raekwon, eine Guru- und eine Tupac-Platte und ein paar französische Platten. Julius und Marcello haben ständig auf den »Schlüsselkind«-Beat gerappt. Ich war der DJ.
Marcello hat schon ‘98 angefangen, eigene Beats mit FastTracker zu machen. So ist das erste Funkviertel-Tape entstanden. Er hat mir auch Fruity Loops gegeben, als ich endlich einen Computer hatte. Es gab damals in Berlin schon Jams und Freestyle-Battles, das war aber eine relativ kleine Szene von Aktivisten, sowohl Ostler als auch Westler. Ich war mit Julius bei mehreren Battles, wo wir mit großen Augen vor der Bühne standen. Da waren Rapper auf der Bühne wie Dra-Q, Lunte, Steiner und Rebel One, aber auch Kool Savas, der sich kurz davor noch Juks genannt hatte. Unseren ersten eigenen Auftritt hatten wir ‘99 auf der Insel der Jugend.
In diesem Jahr dominierten Rapper und Crews aus Hamburg und Stuttgart schon die deutschen Charts. Habt ihr deren Musik gehört?
Klar. Ich hatte ein Tape, auf der einen Seite »Kein Zufall« von Blumentopf und auf der anderen Seite »Kopfnicker« von den Massiven Tönen. Das habe ich zu Tode gehört, war für uns aber völlig unerreichbar. Wir haben damals noch gar nicht an Veröffentlichungen gedacht. Auch wenn wir außerhalb Berlins auf Jams und Konzerten unterwegs waren, habe ich nie so richtig viel connected. Das war so ein ungeschriebenes, tief verwurzeltes Gesetz für die Hip-Hop-Leute aus Berlin, dass man nichts mit anderen gemacht hat. Und wenn man bestimmte Musik doof fand, dann musste man automatisch auch die Leute doof finden, die diese Musik gemacht haben. Vielleicht war ich aber auch einfach nur schüchtern.
Wie kam es dazu, dass ihr eure ersten Tapes veröffentlicht habt?
Wir hatten Pilskills aus Friedrichshain kennengelernt, die hatten sogar schon eine CD gemacht. Dahinter stand einfach der Drang, gehört zu werden. Damals gab es das Internet und Soundcloud noch nicht. Marcello meinte irgendwann, komm, wir machen jetzt auch ein Tape. Ich habe mich zwar gefragt, ob unsere Musik wirklich schon gut genug war, aber da saßen wir schon im Tape-Kopierladen in Prenzlauer Berg und haben die Cover ausgeschnitten. Wir haben die Tapes auch zu Downstairs nach Schöneberg gebracht. Das habe ich einmal machen dürfen, da musste ich dann noch einmal zurück, weil ich eine Quittung brauchte. Leider wussten die gar nicht mehr, dass ich da gewesen war. Das war ärgerlich, aber immerhin wurde ich nicht verhauen. Das war nicht gerade meine Lieblingsgegend dort. Mit 16 wurde ich mal auf dem Ku’damm überfallen und abgezogen. Das war so prägend, dass ich aus Angst lange nicht mehr nach Westberlin gefahren bin. Deswegen mochte ich auch lieber harmlose Musik. Wenn ich so ein Taktlo$$-Tape gehört habe, dann habe ich das alles geglaubt, was der da erzählt hat.
Nach einigen Tapes erwuchs aus dem losen Funkviertel-Verbund schließlich Spoken View, ein richtiges Indie-Label, allerdings in etwas anderer personeller Zusammensetzung. Wie kam das zustande?
Parallel zu den Funkviertel-Tapes arbeitete Marcello an einem Soloalbum. Das kam aber nicht über Funkviertel, sondern bei MK ZWO, einer Plattenfirma, die aus dem gleichnamigen Magazin entstanden ist. Danach hat Marcello sich aus dem Musikbusiness zurückgezogen, und dann ist Funkviertel ein bisschen zerfallen. Wir haben [Morlockk] Dilemma kennengelernt, da waren wir wir mit meinem Lada in Eilenburg, einer Kleinstadt vor Leipzig. Auf der Rückfahrt lief das »Egoshooter«-Tape. Mit Julius [V-Mann aka Hiob] ist das Album »Hang zur Dramatik« entstanden. Und schließlich haben wir Spoken View gegründet. In unserem Umfeld gab es den Fotografen Thomas »Aesop« Krüger. Seine Freundin Kathleen hatte BWL studiert und ein bisschen Geld gespart. Sie hatte Bock, die ganzen Talente unter einen Hut zu bringen. Wir waren alle gleichberechtigte GbR-Partner: Damion [Davis], [Sir] Serch, Mr. Mick, der auch Grafiker ist, der Audio-Engineer Tom, Thomas Krüger, Kathleen als Finanzkopf und ich als DJ und Promo-Dude und später auch als Grafiker. Wir wollten ganz bewusst ein Conscious-Label machen und uns als emotionale Gegenbewegung zu dieser Aggro-Berlin-Welle positionieren.
Warum war euch das so ein klares Anliegen?
Weil wir diese Musik nicht gehört haben und auch nicht durch Gangsta-Rap geprägt waren, sondern eher durch Common, Mos Def und The Roots. Für uns war es auch okay, wenn mal gesungen wurde und wenn man »intelligente« Texte hatte. Das war natürlich der dümmste Zeitpunkt, so ein Label zu gründen, wenn man jetzt mal ans Geld denkt. Das war mal wieder so ein Ostler-Ding – wir machen halt oft einfach, und es geht erstmal nicht so sehr darum, Geld zu verdienen. Wir brennen halt für eine Sache und machen einfach mal, bis wir keine Kraft mehr haben. Was ja bei Spoken View auch am Ende so war.
Du hast erwähnt, dass du bei Spoken View auch als Grafiker und Illustrator tätig warst. Wie hat sich diese Leidenschaft entwickelt?
Ich habe schon als Kind viel gezeichnet. Ich war »Star Trek«-Fan und habe Fan-Art zu irgendwelchen Magazinen geschickt. In der dritten Klasse habe ich herausgefunden, dass der Vater eines Mitschülers von Beruf Grafikdesigner war. Ich war mal bei ihm zu Hause und da hat sein Vater ein Daumenkino gezeichnet. In der Wohnung hingen auch viele selbstgemalte Bilder. Als ich verstanden hatte, dass das sein richtiger Beruf ist, wollte ich das auch machen. Ich hatte Kunst-Leistungskurs und in meiner Kunstlehrerin eine Mentorin, die mich ermutigt hat, Malerei zu studieren. Ich habe mich aber für Kommunikationsdesign entschieden. Das Studium lief immer parallel zur Musik. Ich habe mich oft gefragt, ob mich dazwischen entscheiden muss. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass ich alles mögliche mache, aber nichts richtig, dass ich auf zu vielen Hochzeiten tanze und nie richtig gut in einer Sache werde, wenn ich mich nicht komplett darauf konzentriere. Inzwischen akzeptiere ich das als Teil meines persönlichen Puzzles. Wenn ich in der Musik an einen Punkt der Frustration komme, zeichne ich etwas und das gibt mir wieder Kraft für die Musik. Das ist ein wichtiger Ausgleich für mich. Für mich hat beides viel miteinander zu tun. Ich koche übrigens auch sehr gern. In all diesen Dingen geht es um Komposition.
Ich verstehe diese Gedanken gut. Typische Karriere-Ratgeber raten einem auch oftmals, sich auf eine einzige Sache zu konzentrieren. Das funktioniert für manche Menschen aber einfach nicht.
Dazu kommt, dass ich mit der Haltung aufgewachsen bin, dass man mit 16 eine Ausbildung macht und bis 65 in einem Job arbeitet. Meine Mama hatte am Ende ihrer beruflichen Laufbahn eine Betriebszugehörigkeit von fast 50 Jahren. Deswegen war vielleicht auch so eine Angst in mir verwurzelt, dass meine Eltern dieses Künstlerleben nicht verstehen würden. Erst als meine Mama mal auf einem Konzert mit Fatoni im vollen Huxley’s war, so mit Moshpit und allem, hat sie verstanden, dass das mein Beruf ist und ich mein Geld damit verdiene. Wobei ich immer noch in Teilzeit als Grafikdesigner arbeite. Ich habe nie alles auf eine Karte gesetzt, obwohl ich schon wirklich lange Musik mache und Beats produziere.
Du hast auf vielen Funkviertel-Tapes und Spoken-View-Platten produziert. Die erste Instrumental-Produktion, die ich von dir gehört habe, war »I Love It« auf dem heute legendären »Beat Power«-Sampler, der 2011 auf AUDDA Records kam, dem Label von Twit One und MemyselfandI. In diesen Jahren veröffentlichte MPM auch die stilprägende »Hi-Hat Club«-Reihe mit Instrumentalplatten von u.a. Twit One, Hulk Hodn, Suff Daddy, Dexter, Brenk Sinatra und Fid Mella.
Vorher hatte ich aber noch eine andere wichtige Band, nämlich Sichtbeton mit Lunte. Nach unserem ersten Album ist Lunte zum Studium nach Köln gezogen, das zweite Album »Zurück« haben wir 2009 auf Spoken View gemacht. Da waren auch schon ein paar Instrumentaltracks von mir drauf. Aber erst durch »Beat Power« und die damals aufkommende Beat-Szene wurde mir klar, dass die Instrumentals auch für sich funktionieren.
Welche Produzenten haben dich am meisten beeinflusst?
Ein riesiger Einfluss war RJD2. Seine Musik hatte Einflüsse von Rap, aber es waren auch krasse Eigenkompositionen. Es gab diese Single, »June«... der Song ist die Blaupause für meinen »Manchmal«-Track. Anticon haben wir auch viel gehört, das war Teil von unserer Blaupause, genau wie Anti-Pop Consortium, MF DOOM oder Aesop Rock. Prefuse 73 war für mich auch extrem wichtig. Es gab ja damals, Anfang der 2000er Jahre, schon mal eine Beat- und Instrumental-Szene, und davor, in den 1990er Jahren, gab es schon DJ Shadow und DJ Krush. Auch die Blumentopf-Beats [von Sepalot, Anm. d. Verf.] fand ich sehr gut, vor allem auf dem ersten Album. Da waren immer so eigene, kreative Gimmicks drin.
Während andere Producer in den nächsten Jahren die instrumentale Beat-Szene in Deutschland geprägt haben, wurde es still um dich. Was ist passiert?
2011 habe ich beim »Beat Fight« in Köln den dritten Platz belegt. Danach habe ich lange keine Beats mehr gemacht, weil das Thema irgendwie für mich abgehakt war. Ich mache generell nicht oft Musik, aber wenn ich sie mache, dann kommt da auch was bei raus. Das klingt jetzt vielleicht hochmütig, aber ich verstehe gar nicht, wie Leute jeden Tag Beats machen können. Mir hat mal ein Rapper gesagt, dass er auf meinen Beats nicht schreiben kann, weil die Stimmung schon so vorgegeben sei. Ich weiß aber gar nicht, wie man einen Rap-Beat produziert. Ich bringe in meinen Beats einfach das musikalisch zum Ausdruck, was ich gerade fühle.
Heute gibt es einen immensen Durchlauf, gerade in der »Lofi-Szene«. Produzenten veröffentlichen jede Woche einen Beat und spielen quasi Playlist-Lotto. Das sind natürlich meist nur ganz einfache Loops, keine durchdachten Kompositionen wie die von RJD2 oder Prefuse 73.
Ja, manche Tracks sind ganz simpel, aber catchen mich total, und andere Tracks sind mega komplex ausproduziert und turnen mich nicht. Ich war immer großer Fan davon, wenn Ghostface Killah einfach über einen Soul-Track rappt. Wir kommen aus einer Generation, wo es immer um Eigenständigkeit ging. Wenn du früher auf dem Schulhof dieselben Turnschuhe wie dein bester Kumpel anhattest, dann warst du ein Biter. Oder wenn man gehört hat, dass du beim Rappen halt einfach Dendemann kopierst – voll peinlich. Mir war es immer wichtig, künstlerisch eigen zu sein.
2018 hast du mit Breaque unter dem Pseudonym Ecke Prenz das Album »Nachts im Thälmann Park« veröffentlicht. Wie kam das zustande?
2004 bin ich mit Julius [Hiob] in einem Jugendclub in Weissensee aufgetreten. Die Veranstaltung hatte Roman [Breaque] gebucht. Ich hatte eine ziemlich rare 7-Inch dabei, John Robinson auf einem MF-DOOM-Beat, und Roman wollte unbedingt wissen, wo ich die herhatte. Ich wollte ihm das erst nicht sagen, weil das halt mein Geheimnis war. Später habe ich es ihm aber doch verraten und wir wurden gute Freunde. Bei Ecke Prenz war unser Anspruch, alles was wir gut finden, zu unserem ganz eigenen Misch zu machen: Instrumental-Hip-Hop-Musik, elektronische Sachen, sogar Folk. Ralf Theil hat in einem Pressetext für uns mal geschrieben: Hip-Hop ist nicht, was man auflegt, sondern wie man es auflegt. Das trifft es auf den Punkt. Erst die Brüche machen ein DJ-Set interessant. Und das haben wir hin und wieder echt ganz gut geschafft.
Durch euer Hip-Hop-Verständnis zieht sich von Anfang an eine gewisse Offenheit und ein Hang zum Experimentellen. Ich teile diese Sozialisation, und deswegen finde ich deine Geschichte und eure Musik auch relevant für diesen Newsletter.
Es gab mal ein Anticon-Konzert in der Kastanienallee, wo Sole das Publikum gefragt hat: »Sind hier Hip-Hop-Fans im Haus?« Als es daraufhin Gejubel gab, meinte er nur: »Keine Ahnung, warum ihr hier seid.« Diese Anti-Haltung gefiel mir schon immer. Sachen einfach anders zu machen, Brüche zuzulassen… das war auch unser Anspruch als Ecke Prenz. Wenn ich auflege, kann ich nicht einfach »Sound Of Da Police« spielen, auch wenn dann jedes Mal alle ausrasten. Das geht nicht. Ich will die Menschen überraschen mit Musik, die sie noch nicht kennen, und ihnen zeigen, dass man dazu trotzdem feiern kann. Das ist mein Ansatz beim Auflegen.
Wie hast du die Pandemie erlebt als jemand, der vorher vom DJing gelebt hat?
Also, für mich war es wirklich voll geil. (lacht) Wir waren mitten in der Fatoni-Tour, als der Lockdown kam. Plötzlich war ich zu Hause und alles stand still. Das war das beste Gefühl seit sehr langer Zeit. Keine Termine, du musst nicht rausgehen, nichts machen. Du kannst mit gutem Gewissen einfach dasitzen. Alle Verpflichtungen waren auf Standby. Ich hätte mir gewünscht, dass das länger geht. Diese Zeit war der Startpunkt für meine Solokarriere. Ich wollte ja schon länger diesen bereits erwähnten »Manchmal«-Song herausbringen, also habe ich noch weiter in meinen Archiven gewühlt und ein Album [»Alltimers«, Anm. d. Verf.] zusammengestellt. HHV hat eine kleine Vinyl-Auflage von 500 Stück gepresst, die schnell weg war. Die Platte lief mehr als gut, was mir ein neues Selbstbewusstsein gegeben und eine neue Tür geöffnet hat. Ich hatte oft das Gefühl, nicht gesehen zu werden. Im Hip-Hop sind die Rapper ja immer laut und die DJs sind leise und schüchtern und halten sich im Hintergrund. Wenn es Diskussionen gibt, muss es immer so gemacht werden wie die Rapper wollen. Instrumentale Musik zu veröffentlichen und damit Erfolg zu haben, war eine krasse Ermächtigung. Der Erfolg der Platte hat mich sehr positiv auf das Jahr blicken lassen. Ich hatte zum ersten Mal so richtig Geld mit der Musik verdient und sah dadurch eine Perspektive. Ich muss auch gestehen, dass ich mich gar nicht so sehr aufs Touren freue, jetzt wo es wieder möglich ist. Ich war so lange zu Hause, dass mich der Gedanke an so einen großen Block an Terminen ganz schön stresst. Aber wenn ich erstmal unterwegs bin, ist es auch schnell wieder in Ordnung.
Trotzdem hast du die Stille und Ruhe in der Pandemie genutzt, um noch ein zweites Album zu produzieren: »Sunday On A Monday« ist soeben erschienen.
Im Februar 2021 gab es plötzlich ein paar warme, beinahe frühlingshafte Tage. Ich ging mit Flako spazieren, kam nach Hause und alles schien easy. Da sind drei, vier Beats in zwei Tagen entstanden, die einen krassen Vibe hatten: »Going Home« und »Sunday On A Monday« gehörten dazu. Kennst du das, wenn das Fenster offen ist und das Leben zurückkehrt, dieses Gemurmel auf der Straße? Ich habe zu dem Zeitpunkt in Kreuzberg gewohnt, im 1. Stock, und darunter waren drei Cafés nebeneinander. Diesen Flavor habe ich unbewusst eingebaut. Das ist genau die Stimmung, die gerade herrschte. Vor allem war der Kontrast einfach so krass. Ich hab damals noch zu meiner Freundin gesagt, dass ich mir die Zeit zurückwünsche, als die Straßen so leergefegt waren. (lacht)
Wie kam es, dass das Album bei Kabul Fire veröffentlicht wurde?
Eigentlich wollte ich aus den Stücken eine EP machen. Dann habe ich mich mit Farhot in Hamburg getroffen. Ich hatte noch ein paar ältere Tracks herumliegen, die nach einer New-York-Reise entstanden waren und bei denen ich nicht weiterkam. Diese New-York-Skizzen und die Tracks von der EP hörten wir zusammen in seinem Studio, und am Ende machte er so einen Witz: »Die Musik hab ich ja jetzt, bringe ich dann nächste Woche raus.« Du kennst Farhot und seinen Humor. In meinem Kopf blieb das ein Witz, aber er fragte mich über mehrere Monate immer wieder, ob ich weitergekommen wäre. Irgendwann zeigte ich ihm das Cover und er meinte: »Ja, find ich cool, wohin soll ich den Vertrag schicken?« Da wurde mir langsam klar, dass er meine Platte wirklich über Kabul Fire veröffentlichen wollte – aber er meinte, ich solle ein Album draus machen und noch mehr Tracks produzieren. Und als da plötzlich so ein wohlwollender Mentorendruck war, habe ich auch abgeliefert. Die Chance wollte ich mir nicht entgehen lassen.
Viele assoziieren mit Farhot vor allem die Tracks, die er für Haftbefehl gemacht hat, wissen aber nicht, dass er musikalisch extrem vielseitig ist.
Ja, »Chabos wissen wer der Babo ist« ist seine Visitenkarte. Das kennt wirklich fast jeder, weil das mal in der »Tagesschau« erwähnt wurde und so ein Meme daraus geworden ist. Mich haben aber eher andere Tracks von ihm gecatcht. Seine Beats für Chefket fand ich oft krass. Farhot hat einerseits diese elektronische Synthie-Seite, aber auch so eine soulige, warme Seite – und ich liebe seine kaputten Pianos. Sein Album »Kabul Fire Vol. 2« hat mich zuletzt richtig umgehauen. Das war, bevor mir klar war, dass wir zusammenarbeiten würden. Es ist rund und harmonisch, aber strotzt trotzdem nur so vor Details. Das hat mich krass beeindruckt.
Was sind deine Pläne für dieses Jahr?
Ich wollte eigentlich schon auf ein paar Festivals auflegen. Im April gehe ich mit Dexter auf Tour. Ich war letztes Sommer schon sein Tour-DJ, dieses Mal spiele ich im Vorprogramm eine kleine eigene Show. Außerdem habe ich für den Sommer eine New-York-Reise gebucht – da mache ich mein nächstes Album. Ich habe schon ein paar Ideen für neue Musik. Weiter plane ich nicht. Natürlich muss man Geld verdienen, aber ich schaue einfach, dass ich vor allem Sachen mache, die mir gut tun.
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© 2022 Stephan Kunze