Zen Sounds 014: »Things I Don't Want to Know«
Mit einer Dokumentation über Kanye West und Musik von Julia Gjertsen & Nico Rosenberg, Carmen Villain und Damian Dalla Torre
Ich bin, seit ich denken kann, überzeugter Pazifist. Und ich halte auch in diesen Tagen an meinem Glauben an Frieden und Abrüstung fest. Ja, die Welt ist eine andere als noch vor wenigen Wochen, und die Bilder und Meldungen aus der Ukraine sind gerade schwer zu ertragen. Doch sie unterstreichen für mich nur, woran ich mein Leben lang geglaubt habe. Eine treffende Analyse hierzu liefert Kristina Lunz im Interview mit Teresa Bücker für ihren Newsletter »Zwischenzeit_en«.
Wenn ich gerade mal eine Pause von der Ukraine-Berichterstattung brauche, lese ich die autobiografische Trilogie der britischen Autorin Deborah Levy. Der erste Teil »Things I Don’t Want to Know« (2014) handelt primär von ihrer Kindheit im Südafrika der Apartheid, der zweite Teil »The Cost of Living« (2018) und der dritte Teil »Real Estate« (2021) von der Zeit nach dem Scheitern der Ehe der heute 62-jährigen Schriftstellerin, als sie mit den beiden Töchtern aus dem Londoner Familienhaus in einen Apartmentblock zieht. In dieser stürmischen Phase muss sie ihren Lebensentwurf und ihr Selbstverständnis neu zusammensetzen. Ich kann diese kluge, scharfsinnige Autorin nur jeder*m Leser*in ans Herz legen.
»jeen-yuhs: A Kanye Trilogy« (Netflix, 2022)
Zu Kanye West haben ja alle stets irgendeine Meinung, und ich würde mich selbst in der Vergangenheit nicht ausnehmen wollen. Doch in den letzten Jahren fiel es mir zunehmend schwer, mich zu seinen Eskapaden substanziell zu äußern, ohne auf sein offensichtliches Krankheitsbild zu verweisen. Die dreiteilige Netflix-Serie »jeen-yuhs: A Kanye Trilogy« verschafft nun neue Einblicke in das Leben und die Welt eines der letzten echten Superstars der Popkultur.
Ich habe Kanye West ein einziges Mal persönlich getroffen. Das war im Jahr 2005, als er sein zweites Album »Late Registration« zu bewerben hatte. Ich sprach mit ihm in der Berliner Universal-Music-Zentrale; West schien vom Jetlag übermüdet und schlief während des Interviews sogar am Tisch sitzend ein. Viel mehr erinnere ich nicht von dem Gespräch, da ich damals jeden zweiten Tag irgendeinem Künstler in irgendeinem Konferenzraum gegenübersaß. Einen Eindruck seines überbordenden Egos bekam ich in dem Interview trotzdem.
Schon seit Beginn seiner Karriere begleitete West der latente Größenwahn, den man gern als Ausdruck seiner Ambition und Getriebenheit deutete. Doch in den letzten Jahren wurden die Auswirkungen seiner bipolaren Persönlichkeitsstörung immer deutlicher: Von erratischen öffentlichen Auftritten über bedenkliche Social-Media-Äußerungen bis hin zum aggressiven Stalking seiner Ex-Frau. Wer sich darüber noch lustig machte oder West einfach nur als von sich selbst eingenommenen Angeber abtat, offenbarte dadurch vor allem seinen eigenen Horizont.
»jeen-yuhs« zeigt in den ersten beiden Teilen vor allem den Aufstieg Kanye Wests von einem talentierten Mittelstandskind aus Chicago zu einem der größten Hip-Hop-Künstler der Nullerjahre. Diese Teile sind es, die ich gern geschaut habe, vor allem weil ich diese Szene in genau jener Zeit intensiv begleitet habe. Die intimen Nahaufnahmen bieten einen raren Einblick in die letzte mythische Ära vor der Allgegenwärtigkeit sozialer Medien. Heute würden diese magischen Momente, in denen West im Studio auf Jay-Z und im Büro auf Damon Dash trifft, wohl in der Insta-Story landen.
Den großen Wendepunkt seines Lebens und der Doku markiert der Tod seiner geliebten Mutter Donda West im Jahr 2008. In diesem Moment ändert sich auch das Erzähltempo. Hatte der Filmer Coodie den jungen Kanye bis zu seinem Debütalbum ständig begleitet, war sein Zugang zum frischgebackenen Grammy-Gewinner schon deutlich eingeschränkt gewesen. Nach Dondas Tod folgten fast acht Jahre komplette Funkstille. Jahre, in denen Wests Verhalten aus der Distanz immer sonderbarer schien. Erst 2016 nahm er wieder intensiveren Kontakt zu seinem früheren Weggefährten auf, so dass Coodie die Doku, die sich nun über einen Zeitraum von gut 20 Jahren erstreckt, endlich zu einem Abschluss bringen konnte.
Für West waren die letzten Jahre ganz sicher nicht leicht. Seine manischen Phasen wurden manischer, die depressiven Phasen depressiver. Zeitweise setzte er die verordnete Medikation eigenmächtig ab. Es gibt Momente im dritten Teil der Dokumentation, in denen mir das Hinschauen schwer fiel. Ich denke zum Beispiel an die Szene, in der West mit ein paar weißen, mittelalten Investoren in zu engen Hemden auf einer Hotelterrasse in der Dominikanischen Republik sitzt und plötzlich vollkommen unerwartet in eine seiner berüchtigten Tiraden verfällt, während seine Geschäftspartner dümmlich grinsen und an ihren Drinks nippen.
Da ist auch der Moment, in dem West sich über einen anerkennenden Fox-News-Kommentar zu seiner ersten, unausgegorenen Rede als US-Präsidentschaftskandidat freut. Oder der Moment, in dem er auf seiner Ranch in Wyoming auf einer Couch sitzt und mal wieder gegen Abtreibung wettert, während Justin Bieber neben ihm immer tiefer in seinem Kapuzenpulli versinkt. Ein paar Minuten später stopft West halbrohe Rindfleischstreifen in sich hinein, während er mit Rick Rubin telefoniert und ihn oberlehrerhaft wegen einer unverfänglichen Phrase (»I’m excited!«) rüffelt. Ob solche Szenen dazu geeignet sind, den Diskurs über mentale Gesundheit weiter zu normalisieren, darf bezweifelt werden.
Zugegeben, ich habe nach »The Life Of Pablo« (2016) aufgehört, mich für Kanye Wests Musik zu interessieren. Das ist schade, denn sie war mal extrem wichtig – und vor allem progressiv. Seine ersten drei Alben, die er zwischen 2004 und 2007 veröffentlichte, waren mutige Hip-Hop-Platten, die eine Neuinterpretation verletzlicher und gleichzeitig selbstbewusster Schwarzer Männlichkeit ermöglichten. Mit »My Beautiful Dark Twisted Fantasy« (2010) schrieb West sein Opus Magnum – eines der stärksten Alben nicht nur in der Geschichte des Genres, sondern auch im Pop-Kanon der letzten Jahrzehnte.
Mit experimentellen Konzeptalben wie »808s & Heartbreak« (2008) und »Yeezus« (2013), die bei ihrer Veröffentlichung ambivalent aufgenommen wurden, prägte und veränderte West das Soundbild kontemporärer Popmusik. Dazu arbeitete er mit vorwärts denkenden Musiker*innen außerhalb der Hip-Hop-Blase zusammen, etwa mit Arca und Santigold, mit Justin Vernon und James Blake. Alles, was in den letzten fünf Jahren erschien, klang im Gegensatz dazu belanglos und unausgegoren. Wests letzte Alben enthielten zwar noch die eine oder andere gute Idee, litten jedoch unter schludriger Exekution und mangelnder Qualitätskontrolle. Laute PR-Events übertönten die mangelnde künstlerische Substanz.
Wests nicht zu rechtfertigendes Verhalten gegenüber seiner Ex-Frau Kim Kardashian stieß mir wie vielen Beobachter*innen in den letzten Monaten übel auf – auch weil mancher Fan immer noch versuchte, sein Stalking und Mobbing zur romantischen Geste umzudeuten. Gleichzeitig muss spätestens nach »jeen-yuhs« klar sein, dass Kanye West nicht gecancelt werden muss, sondern Hilfe braucht. Und auch wenn es Spaß macht, sich von den ersten beiden Teilen der Doku in die Blütephase seiner Karriere zurückversetzen zu lassen, lässt sich der Eindruck des Voyeurismus spätestens im dritten Teil nicht mehr ganz abschütteln.
Julia Gjertsen & Nico Rosenberg – »Paisajes Imaginarios« (Constellation Tatsu, 2022)
Dieses Album erschien bereits Anfang Januar, aufmerksam wurde ich darauf durch eine Empfehlung von Bandcamp Daily.
Julia Gjertsen ist eine Komponistin aus Oslo, Nico Rosenberg ein in Berlin lebender, chilenischer Ambient-Produzent. Auf zwei Stücken ihres gemeinsamen Albums »Paisajes Imaginarios« spielt Alena Franken zusätzlich Flöte. Zarte Klaviermelodien betten Gjertsen und Rosenberg in weißes Lo-Fi-Rauschen, doch immer wenn die melodische Struktur allzu süß und gefällig werden könnte, zögern sie spürbar: »Tilflukt« ist ein perfektes Beispiel für diese wirkungsvolle Strategie. Die Kombination aus präpariertem Klavier und Tape-Loops ist natürlich ohnehin ein lange erprobtes Konzept in der Geschichte der Ambient-Musik. Brian Eno und Harold Budd haben schon vor über 40 Jahren auf diese Weise gearbeitet.
Brian Leeds alias Huerco S., der letzte Woche das Album der Ausgabe beisteuerte, distanzierte sich kürzlich vom Ambient-Genre, weil er große Teile davon für »kapitalistische Produktivitätsmusik« hält. Gewiss hat er einen Punkt, doch dieses Album betrifft seine Kritik nicht. Das hier ist Musik, die ein Innehalten ermöglicht, die einen Puffer und eine Distanz schafft zwischen Hörer*in und Wirklichkeit – »diskrete« Musik im wahrsten Sinne des Wortes. Das explizite Konzept war die Kreation eines sicheren Raums zur Reflektion und zum Rückzug aus dem Alltagsleben. Letztlich genau das, was ich diese Woche dringend brauchte.
Carmen Villain – »Only Love From Now On« (Smalltown Supersound, 2022)
Die norwegisch-mexikanische Künstlerin Carmen Hillestad aka Carmen Villain hat eine interessante Metamorphose durchgemacht: Von einer frühen Model-Karriere hin zur Musik, und von Sonic-Youth-beeinflusstem Shoegaze-Indierock hin zu experimenteller, instrumentaler Ambient-Musik. Neun Jahre nach ihrem musikalischen Debüt hat Carmen Villain nun das beste und mutigste Album ihrer Karriere aufgenommen.
Der Ursprung der Klänge auf »Only Love From Now On« ist oft nicht ganz leicht zu identifizieren; teilweise ist nicht einmal klar, ob ein Klang elektronischer oder akustischer Herkunft ist, weil mehrere Quellen so kunstvoll miteinander verwoben wurden. So entsteht eine mystische Fourth-World-Musik mit reichlich Jon-Hassell-Referenzen (vor allem im Opener »Gestures«, auf dem Arve Henriksens Trompete digital prozessiert wird), unpeinlichen New-Age-Anklängen (im Titelstück mit Joanna Scheie Orellana an der Flöte) und erdigen Dub-Techno-Texturen (in »Subtle Bodies«, das an frühe Monolake-Produktionen erinnert).
Carmen Villain hat richtig daran getan, im Laufe der Jahre vieles in ihrer Musik wegzulassen – inklusive den kalten Gesang und die abstrakten Texte, die ihr Frühwerk durchzogen. Brian Eno hat einmal sinngemäß gesagt, dass instrumentale Musik stets mehr Geheimnisse in sich trägt als vokale Musik. Auf »Only Love From Now On« sind es gerade die geheimnisvollen, merkwürdigen Klänge, aus denen das Album seinen enormen Reiz bezieht. Jedes Wort darauf wäre eines zuviel.
Damian Dalla Torre – »Happy Floating« (Squama, 2022)
Ganze 19 Musiker*innen waren an der Produktion des Debütalbums des Saxofonisten und Komponisten Damian Dalla Torre beteiligt – es ist geradezu eine Feier der elektroakustischen Kollaboration. Die Kompositionen sind verwurzelt im experimentellen Jazz, jedoch durchsetzt mit Samples, Synthesizern und Tape Loops, was sie in die Nähe von Ambient und elektronischer Musik rückt.
Der Südtiroler Musiker und Multi-Instrumentalist, der in Leipzig lebt, schickte ganz klassisch ein Demo an den Squama-Gründer Martin Brugger. Der zeigte sich begeistert, und wenn man »Happy Floating« hört, stellt man schon bald eine Wesensverwandtschaft zu den übrigen Veröffentlichungen des Münchner Labels fest. Vor allem jedoch kreiert es eine ganz eigene Atmosphäre aus organischen Texturen, warmen Melodien und trockenen Drums.
Die Besetzung ändert sich auf beinahe jedem Stück, und doch zieht sich eine ganz bestimmte, hoffnungsvoll melancholische Stimmung durch »Happy Floating«. In seiner verspielten Unbekümmertheit erinnert das Werk an den Weg des Tao, der niemals als Weg des geringsten Widerstandes missverstanden werden darf. Vielmehr lebt nur die*derjenige mit der geheimnisvollen Kraft im Einklang, die*der mit den Irrungen und Wirrungen des Lebens wirklich einverstanden ist und daher alles voll und ganz erlebt, was sich auf ihrem*seinem Weg präsentiert.
In diesem Sinne: Happy Floating.
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© 2022 Stephan Kunze