Zen Sounds 013: »For Those Of You Who Have Never«
Mit Musik von Huerco S., Eiko Ishibashi, Patricia Wolf, Klara Lewis, Adam Miller, Maggi Payne, Burial & Four Tet
Es ist Krieg. Nachrichtenseiten und soziale Netzwerke werden sekündlich mit neuen Schreckensmeldungen, Bildern und Videos geflutet. Wie viele von uns muss ich in dieser Situation mit meinen emotionalen Kräften haushalten.
Gerade in solchen Zeiten werden Musik und Kunst mehr denn je gebraucht – nicht zur Verbreitung politischer Botschaften, und auch nicht (nur) zu rein eskapistischen Zwecken. Musik ist Teil einer wichtigen Coping-Strategie, um mit dem Wahnsinn der Welt fertigzuwerden. Daher gilt, frei nach Jay-Z in »Fade To Black«: »Don’t ever stop the music.«
Album der Ausgabe
Huerco S. – »Plonk« (Incienso, 2022)
Sechs Jahre ist es her, dass Brian Leeds mit seinem mittlerweile kanonischen zweiten Album »For Those Of You Who Have Never (And Also Those Who Have)« das bis heute andauernde Ambient-Revival lostrat. Er konnte ja nicht wissen, wieviel seelenloses Playlisten-Futter folgen würde, und er kann natürlich auch nichts dafür. Sein eigenes Werk war eine meisterhafte Neuerfindung des Genres, eine Sammlung spröder, windspielartiger Klangminiaturen, die sich permanent veränderten und in denen sich doch keine lineare Bewegung ausmachen ließ.
In der Zwischenzeit hat der Produzent aus Kansas mit West Mineral Ltd. ein hervorragendes, geschmackssicheres Label aufgebaut und unter dem Namen Pendant weiterhin gute, einigermaßen sperrige Musik veröffentlicht. Auf ein neues Album von Huerco S. musste man trotzdem bis heute warten. »Plonk« ist nun weit entfernt davon, ästhetisch an seinen prominenten Vorgänger anzuschließen – vielmehr ist es ein gelungener musikalischer Befreiungsschlag. Los geht es mit improvisiert wirkender Laptop-Kammermusik, weiter über schattenhafte Techno- und House-Reduktionen à la Actress und atonalen Autechre-Wahnsinn hin zu experimentellem Hip-Hop mit Sir E.U und einer abschließenden 11-minütigen Ambient-Nummer, die den verspäteten Anschluss an das bekannteste Werk von Huerco S. schafft.
»Plonk« bietet eine schlüssige, mutige Vision von elektronischer Musik im Jahr 2022, die sich sowohl auf ihre reiche Geschichte als auch auf kontemporäre Entwicklungen bezieht und dabei fast so etwas wie eine neue musikalische Sprache entwickelt, fernab von irgendwelchen imaginären Dancefloors. Ein beeindruckendes Album.
Song der Ausgabe
Eiko Ishibashi – »Drive My Car« (Space Shower Music, 2022)
Obwohl wir erst Ende Februar haben, hat die japanische Musikerin Eiko Ishibashi in diesem Jahr schon zwei ausgezeichnete Werke veröffentlicht – ihr experimentelles Soloalbum »For McCoy« auf Black Truffle, das dem Protagonisten der US-Fernsehserie »Law & Order« gewidmet ist und entfernt an den jazzigen Postrock von Tortoise erinnert, und den hervorragenden Soundtrack zu der japanischen Murakami-Verfilmung »Drive My Car«. Ishibashis Mann Jim O’Rourke, eine Legende der Chicagoer Improv-Szene, spielt darauf Gitarre.
Obwohl der ganze Score großartig geraten ist, hat es mir doch vor allem das instrumentale Titelstück mit seiner bittersüßen Atmosphäre angetan. Eine wunderbare Mischung aus zarter japanischer Melancholie, amerikanischem Fusion-Jazz und einer Pop-Sensibilität, mit Geigen und Flöten und Fender Rhodes und einer Melodie, die mir tagelang im Kopf herumgeht, selbst wenn ich den Song nur ein einziges Mal gehört habe. Der Film ist übrigens für vier Oscars nominiert.
Patricia Wolf – »I’ll Look For You In Others« (Past Inside The Present, 2022)
Patricia Wolf ist keine Unbekannte in der Avantgarde-Szene von Portland, Oregon. Jahrelang betrieb sie dort eine Kunstgalerie, über der sie auch wohnte und in der experimentelle Musiker*innen aus aller Welt auftraten. Schon vor Beginn der Pandemie musste sie die Galerie schließen, wegen der steigenden Kriminalität in der Gegend. Die Pandemie schließlich trieb Wolf, wie so viele Künstler*innen, in einen Zustand permanenter Introspektion. Sie hörte vor allem Ambient-Musik und beschäftigte sich mit Synthesizer-Aufnahmen und Field Recordings.
Ihr Debütalbum »I’ll Look For You In Others«, das in dieser Periode entstanden ist, widmet Wolf ihrer an Brustkrebs verstorbenen Schwiegermutter. Die Songtitel referenzieren Tod und Verlust, und auch das buddhistisch anmutende Sprachbild im Albumtitel verweist auf die Hoffnung, dass ein geliebter Mensch niemals ganz geht, sondern in anderen Lebewesen spürbar und lebendig bleibt. »I’ll Look For You In Others« ist ein schwermütiges Werk von tiefer Schönheit, das sich mit Abschied und Wehmut beschäftigt, aber auch mit den Momenten, die aus der Krise herausführen, wenn die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings ins Fenster scheinen. Wolf gibt der Trauer ihren Raum, ohne sich von ihr verschlucken zu lassen. Es ist das richtige Album für die letzten Tage des Winters.
Klara Lewis – »Live In Montreal 2018« (Editions Mego, 2022)
In den letzten Wochen war ich wieder mehr unterwegs, nicht nur zu Fuß und auf dem Rad, sondern auch in öffentlichen Verkehrsmitteln. Dabei ist Ambient-Musik als Begleitung zwar interessant, weil oft nicht ganz klar ist, welche Geräusche und Gesprächsfetzen eigentlich aus dem Kopfhörer und welche aus der realen Umgebung kommen. Manchmal brauche ich als introvertierter Mensch allerdings Musik mit einem durchgängig lauten Pegel, ohne Stille und Pausen, um mich komplett von der Umwelt abzuschotten. »Live In Montreal 2018« ist dazu perfekt geeignet.
Ein geisterhafter Choral-Loop, darunter stolpern kaputte Dub-Beats voran – das erste Drittel dieses 47-minütigen Live-Mitschnitts der schwedischen Komponistin Klara Lewis klingt nach den Illbient-Experimenten der späten 1990er Jahre, wie eine verlorene Übertragung aus den Katakomben des noch nicht gentrifizierten Williamsburg. Im zweiten Drittel verschwinden die Beats und der Lärm nimmt überhand, bis aus dem weißen Rauschen plötzlich der wortlose Gesang einer Frau hervorsticht. Das Set steht stets gefährlich auf der Kippe und droht jederzeit, komplett im Chaos zu versinken. Ein künstlerischer Drahtseilakt, dem ich letzte Woche gern und gebannt zugehört habe, immer und immer wieder.
In einem aktuellen DJ-Set für NTS Radio zeigte Klara Lewis ihre Einflüsse von MF DOOM bis Mica Levi, Brian Eno bis Eiko Ishabashi. Ihre eigene Musik klingt nach absolut nichts davon, sondern einzig und allein nach ihr selbst.
Adam Miller – »Gateway« (Inner Magic, 2022)
20 Jahre spielte Adam Miller im Hauptberuf Gitarre bei den Chromatics – bis im letzten Jahr die Auflösung der Band bekanntgegeben wurde. Mit »Gateway« hat Miller nach der Trennung nun ein impressionistisches, instrumentales Soloalbum veröffentlicht, dessen offensichtlichster Bezugspunkt die Musik von The Durutti Column sein dürfte. Der britische Gitarrenvirtuose Vini Reilly stand mit seinen Factory-Alben der frühen 1980er Jahre deutlich Pate für Stil und Stimmung, doch auch der verträumte Krautrock von Michael Rother oder Manuel Göttsching stellt eine Referenz dar. Die zumeist kurzen, skizzenhaften Stücke auf »Gateway« hat Miller über Jahre gesammelt; sie stammen aus jenem Niemandsland zwischen Traum und Realität kurz nach dem Aufwachen. Ein meditatives, kontemplatives Album, perfekt für die frühen Morgenstunden.
Maggi Payne – »Through Space And Time« (Longform Editions, 2022)
Regelmäßige Leser*innen dieses Newsletters kennen mein Faible für das australische Label Longform Editions, das sich ganz dem Deep Listening verschrieben hat. In regelmäßigem Turnus veröffentlicht das Label neue Werke von äußerst diversen Künstler*innen und Komponist*innen und konzentriert sich dabei auf lange Stücke, die zu einem genauen Hin- und Zuhören einladen.
Mitte Februar kamen wieder vier neue Stücke bei Longform Editions heraus, und ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich das 15-minütige »Through Space and Time« von Maggi Payne empfehlen. Payne arbeitet seit Jahrzehnten als elektroakustische Komponistin; sie ist 77 Jahre alt und leitete 26 Jahre lang das Center for Contemporary Music am Mills College in Berkeley, Kalifornien. Dieses Stück schrieb sie vollständig auf einem Moog-Synthesizer, ursprünglich für eine Ausstellung über experimentelle Musik in Madrid. Die immersiven Klänge, die Payne ihrem Instrument entlockt, entführen die Hörerin wahlweise in eine radikale Naturlandschaft oder direkt ins Weltall. Besonders auf Kopfhörern entfaltet das Stück eine geradezu körperliche Kraft. Payne ist wahrlich eine Meisterin ihrer Zunft.
Joshua Minsoo Kim hat im Mai 2020 für Tone Glow ein großartiges Interview mit Maggi Payne geführt.
Re-Issue Corner
Burial + Four Tet – »Nova/Moth« (Text, 2009/2012/2022)
William Bevan und Kieran Hebden, zwei der wichtigsten Produzenten der elektronischen Musik der letzten 20 Jahre, gingen in den 1990er Jahren beide auf die Elliott School in Putney im Südwesten Londons. Zwei gemeinsame Stücke aus den Jahren 2009 respektive 2012, die bislang nur auf Vinyl erhältlich waren, wurden nun erstmalig auch digital verfügbar gemacht: »Moth« und »Nova«.
Beide Stücke haben in den letzten zehn Jahren nichts von ihrer Magie verloren. »Nova« kommt mit Burial-typisch gepitchten, melancholischen Vocals und einem geshuffleten House-Beat daher. Die eigentliche Sensation ist für mich »Moth«, ein beinahe clubtauglicher Track mit düsterer Atmosphäre und klassischem UK-Garage-Rhythmus, der mit seinen knapp zehn Minuten keine Sekunde zu lang geraten ist. Hebden hält »Nova« und »Moth« gar für »zwei der besten Tracks, an denen [er] jemals beteiligt war«. Der öffentlichkeitsscheue Bevan schweigt dazu – wie immer.
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© 2022 Stephan Kunze
Zen Sounds 013: »For Those Of You Who Have Never«
Hej Stephan, vielen Dank für das Teilen dieser Liste. Jede neue Episode des Newsletters begeistert mich mehr und mehr! Weiter so! LG aus Hamburg