Zen Sounds 012: Interview mit Maya Shenfeld
Ein Gespräch über Performances für 16 E-Gitarristinnen, Jugendchorproben in einem verlassenen Schwimmbad und Schweige-Retreats im Jordangraben
»In einem Land aufzuwachsen, in dem eine konstante Bedrohung herrscht, macht etwas mit dir als Kind«, sagt Maya Shenfeld, als wir entlang der Bahngleise vom S-Bahnhof Yorckstraße in Richtung der Roten Insel laufen. Sie spricht von ihrer Kindheit und Jugend im Israel der Intifadas. »Als Kind hörte ich ständig von schrecklichen Dingen, die in der Nachbarschaft passiert waren, aber trotzdem lebte ich nicht in permanenter Angst. Kinder sind in der Lage, solche Aspekte im Alltag auszublenden.«
Maya wuchs in Jerusalem als Tochter eines Brasilianers und einer Marokkanerin auf. Sie ist klassisch ausgebildete Gitarristin und Komponistin; mit 20 zog sie aus Mangel an künstlerischen Perspektiven nach Berlin, um an der Universität der Künste (UdK) zu studieren. Die Rote Insel im Bezirk Schöneberg ist seitdem ihre neue Heimat, eine »Insel« zwischen Bahngleisen, ein traditionelles Arbeiter- und Künstlerviertel südlich des Gleisdreieckparks. Es ist ein grauer Februarnachmittag, wir laufen vorbei an einer Boulder-Halle, an kleinen Geschäften, Cafés und Plattenläden.
Der Grund für unser Treffen ist Mayas Debütalbum »In Free Fall«, das soeben bei Thrill Jockey erschienen ist, einem ikonischen US-Indielabel mit Hauptsitz in Chicago, das inzwischen auch eine Dépendance in Berlin unterhält. Das Album bekam überbordende Kritiken in The Guardian, im Tagesspiegel und bei The Quietus. Vollkommen zurecht, denn »In Free Fall« ist das erste Lebenszeichen einer aufregenden, neuen Stimme, die die experimentelle Musikszene mit ihrer Identität und Perspektive bereichert. Ein Gespräch über Performances für 16 E-Gitarristinnen, Jugendchorproben in einem verlassenen Schwimmbad und Schweige-Retreats im Jordangraben.
Maya, du bist in Jerusalem bereits in sehr jungen Jahren auf eine Musikschule gegangen und wurdest dort klassisch ausgebildet, richtig?
Ja, das Musik-Gymnasium gehört zum Konservatorium in Jerusalem. Im Prinzip war es wie eine normale Schule, aber die musikalische Ausbildung war in das tägliche Lernen integriert. Wir hatten Musiktheorie, Musikgeschichte… diese Schule war sehr klassisch orientiert. Daher gab es dort keine Bandproben, wie es heute üblich wäre. Stattdessen gab es jeden Freitag ein Kammermusik-Konzert. Viele prominente Musiker*innen in Berlin waren auf diesem Konservatorium, zum Beispiel Amihai Grosz, der Bratsche bei den Berliner Philharmonikern spielt.
Wie bist du ausgerechnet zur klassischen Gitarre gekommen?
Meine Eltern sind liebenswürdige Menschen, aber keine Musiker*innen. Trotzdem ermöglichten sie mir ab einem sehr jungen Alter die musikalische Ausbildung, und ihnen wurde gesagt, dass ich musikalisch sei. Die Lehrer*innen sagten immer, ich hätte ein gutes Ohr. Zunächst spielte ich Klavier. In der 6. Klasse nahm ich zufällig eine Gitarre in die Hand und wollte Gitarre lernen. Unser Nachbar war ein klassischer Gitarrist, und meinen Eltern war nicht bewusst, dass es ein großer Unterschied ist, ob man klassische Gitarre oder Lagerfeuer-Gitarre spielt. Jedenfalls wollten sie mich auf die Schule in der Stadt schicken – wir lebten damals in einem Vorort von Jerusalem –, und so kam ich auf die Musikschule als Gitarrenschülerin.
Du hast das Studium in Jerusalem begonnen und in Berlin beendet, richtig?
Ja, ich habe mein Vordiplom in Jerusalem gemacht und bin mit 20 Jahren nach Berlin gezogen. Ich habe klassische Gitarre studiert und einen Abschluß als Master gemacht. Anschließend studierte ich Neue Musik mit Schwerpunkt Komposition und Performance an der UdK.
Was für Musik hast du gehört, als du aufgewachsen bist?
Viel Musik aus dem Nahen Osten, da meine Mutter aus Marokko stammt, zum Beispiel Aris San, den griechisch-jüdischen Sänger und Gitarristen. Und da mein Vater Brasilianer ist, hörten wir zu Hause auch viel Bossanova und brasilianische Musik. In der Schule mochte ich Portishead und Nirvana. Es fiel mir leicht, Nirvana-Songs auf der Gitarre nachzuspielen. Aber ich hörte auch viel klassische Musik für Klavier und Orchester, am liebsten Streichquartett. Als Teenager in Jerusalem arbeitete ich auf einem großartigen Kammermusik-Festival, wo ich Karten verkauft habe. Dort hörte ich das Jerusalem Quartett oder Barenboim. Ich liebte aber auch israelischen Indie-Rock und ging auf alle lokalen Festivals.
Hast du selbst auch in Bands gespielt?
Nur ein bisschen Jazz, aber niemals in richtigen, festen Bands. Man muss auch sagen, dass meine Schule sehr konservativ und streng war. Eine E-Gitarre in die Hand zu nehmen, hätte meinen Rauswurf bedeutet. Das war ein großes No-Go. Ich hoffe, heute ist es anders. Damals gab es keinen kreativen Freiraum. Vielleicht war ich aber auch einfach nicht rebellisch genug.
Denkst du, dass du aus diesem Grund heute in der experimentellen Musik unterwegs bist?
Absolut. Ich versuche immer noch, meine Beziehung zur Musik zu verstehen. Ich dachte immer, dass ich als Erwachsene etwas anderes machen würde. Als ich nach Berlin kam, gab es durchaus auch gewisse praktische Erwägungen, warum ich mich für das Studium einschrieb. Aber an der UdK ist das Studium sehr unstrukturiert – auf eine positive Weise. Man kann als klassische Gitarristin eingeschrieben sein, aber Seminare in Bildender Kunst oder im Dirigieren besuchen. Auf der Gitarre fühlte ich mich irgendwann zu limitiert. Es ist ein großartiges Instrument, aber auch ein extrem schwieriges. Manchmal, wenn ich für ein Examen lernte, fühlte es sich eher an, als wäre ich eine Leistungssportlerin und keine Musikerin.
Ich verstehe, dass es vor diesem Hintergrund sehr reizvoll gewesen sein muss, eigene Kompositionen zu schreiben anstatt zu versuchen, bestimmte Werke von anderen technisch perfekt zu spielen.
Ja. Aber das Instrument hat mir auch eine Menge gegeben. Allein, dass ich mit einem Stipendium nach Berlin kommen konnte. Einerseits möchte ich daher eine Lanze für eine liberale, ganzheitliche Ausbildung in der klassischen Musik brechen. Andererseits wird man natürlich auch sehr gut, wenn man sich so intensiv mit einem Instrument beschäftigt. Mein musikalisches Verständnis und mein Wissen kommen von diesem altmodischen Konservatorium – sogar manche der Techniken, die ich auf meinem Album benutze. Es war eine außergewöhnliche Ausbildung.
Ich denke, dass man in der Kunst die Regeln erst lernen muss, bevor man sie kreativ brechen kann. Bevor Coltrane oder Coleman wirklich frei spielen konnten, mussten sie Bebop und Hardbop spielen lernen, aber dann schwammen sie sich von den Regeln dieser Systeme frei.
Das stimmt. Ich habe inzwischen auch meinen Frieden mit meiner Ausbildung geschlossen. Es gab Zeiten, in denen ich müde war und die Nase voll hatte. Mit 26 war ich im Begriff, meinen zweiten M.A. in Neuer Musik zu machen, aber da ich schon einen M.A. in klassischer Gitarre hatte, habe ich dieses Studium nie abgeschlossen. Stattdessen fing ich an, an der Oper und in einer Band zu spielen. Ich nahm die E-Gitarre in die Hand und hatte wieder richtig Spaß an der Musik – was vorher nicht immer der Fall war. Es war sehr aufregend zu entdecken, wie sehr ich Musik liebe, und wie sehr Menschen es generell lieben, Musik zu genießen. Ich wollte einfach kreativ sein und fokussierte mich daher fortan auf meine eigenen Kompositionen.
Ich habe kürzlich in einem älteren Interview mit Olivia Block gelesen, dass sie als experimentelle Musikerin und Komponistin zunächst ein Problem damit hatte, überhaupt zu verstehen, welche Maßstäbe und Parameter an experimentelle Musik angelegt werden, weil sie über Jahrzehnte primär von Männern entwickelt wurden. Kannst du damit etwas anfangen?
Es ist ein interessanter Gedanke, wenn man sich fragt, wer überhaupt traditionell entschieden hat, wer in diesem Bereich eine Stimme bekommt und wer nicht. Ich habe das Thema noch nie aus dieser Perspektive betrachtet. Aber natürlich war es ein großes Thema für mich. Ich war immer das einzige Mädchen. Am Musik-Gymnasium war ich die einzige klassische Gitarristin. An der UdK gab es zwar mehr Frauen, aber kaum Komponistinnen. Ich habe an der Popakademie gelehrt, unter 11 Gitarristen in einer Klasse gab es nur eine Frau. Das spiegelt sich natürlich auch im Lehrkörper. Aus dieser Frustration entstand auch eine Performance des Julius-Eastman-Stückes »Gay Guerilla«, die wir ganz bewusst mit 16 E-Gitarristinnen umgesetzt haben. Für mich war das wichtig, weil ich das Stück auch schon einmal in einem Ensemble gespielt habe, wo ich die einzige Frau war. Ich halte es für wichtig, dass wir es künftigen Generationen von Frauen leichter machen. Ich hatte keine Frauen als Rollenvorbilder. Ich musste gegen viele Dinge ankämpfen: Ich wollte nie bloß der »Interpret« sein. Bis ich in Berlin ankam, war »Komponistin« nicht einmal ein möglicher Beruf für mich. Doch hier lernte ich 22-jährige skandinavische Frauen kennen, die sich composer oder sound artist nannten. Das beeindruckte mich: »Wait, Marta, so you’re a composer?«
Du sprichst vermutlich von Marta Forsberg?
Ja. Frauen als Komponistinnen, das war für mich vorher überhaupt kein Thema gewesen. Über das Repertoire von Pauline Oliveros oder Éliane Radigue, das in den letzten Jahren wiederentdeckt wurde, sprach damals noch keiner, jedenfalls nicht in Jerusalem. Ich weiß, dass es um die Documenta in Athen herum eine Phase der Wiederentdeckung von Oliveros’ Werken gab, und ich finde es wundervoll. Aber bei uns war das alles kein Thema.
Nun ist dein Debütalbum »In Free Fall« erschienen und du kannst dich mit Fug und Recht »Komponistin« nennen. Hast du an einem bestimmten Punkt entschieden, an einem Album zu arbeiten, oder ist es einfach so passiert?
Es war tatsächlich eine sehr bewusste Entscheidung. Als ich mich entschlossen hatte, nicht mehr in der akademischen Szene der UdK aktiv zu sein, fing ich an, viele kommissionsbasierte Arbeiten zu machen – Soundinstallationen, Performances... Jedes dieser Projekte war großartig, aber jedes Mal arbeitete ich monatelang an einem Stück oder einer Performance, und dann kam die Aufführung, in einem bestimmten Rahmen, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort, und anschließend ließ sie sich nicht mehr rekreieren. Wer an dem Abend nicht vor Ort war, hatte keine Chance, in den Genuss der Musik zu kommen. Und ich liebte das! Aber ich war neugierig auf ein anderes Konzept, das etwas langlebiger ist.
Ich verstehe genau, was du meinst. Das Konzept der Aufführung ist eine schöne Erinnerung an die Einzigartigkeit des Moments. Aber ein Album ist ein klassisches Format, an dem sich die meisten Künstler*innen dennoch versuchen wollen.
Genau, ein Album ist eher wie ein Buch. Und deswegen habe ich auch so lange dafür gebraucht, über drei Jahre. Ich habe viele Wege ausprobiert und mich dabei gefragt: Was ist meine musikalische Stimme? Wie klinge ich? In diesem Zuge ist natürlich sehr viel Musik entstanden, die nicht auf dem Album gelandet ist. Die meiste Musik ist nicht auf dem Album. (lacht) Und streckenweise ist es auch einfach schwierig dranzubleiben. Besonders, wenn du auch noch einen Day Job hast und nebenher dieses Mammutprojekt zu stemmen versuchst, einfach nur weil du es tun möchtest.
Du hattest ja auch kein Label im Rücken, sondern hast erstmal ganz unabhängig daran gearbeitet, richtig?
Ja, es war komplett fertig, als Thrill Jockey auf mich zukamen.
Wie haben sie von dem Album erfahren?
Im Februar 2020 spielte ich mein letztes Konzert vor der Pandemie in einem winzigen Offspace in Neukölln. Matt von Thrill Jockey kam die Straße herunter und sah, dass der Raum voller Menschen war, also ging er hinein, um zu sehen, was dort passierte. Nach dem Konzert sprach er mich an und machte mir Komplimente über meine Musik. Wir blieben über Social Media in Kontakt. Er war gerade im Begriff, nach Berlin zu ziehen, weil Thrill Jockey hier ein Büro eröffnete. Er fragte mich immer wieder nach der Musik, und irgendwann schickte ich sie ihm. Und so ist es passiert.
Was war deine Idee zuvor, was mit der Musik geschehen sollte?
Ich wollte das Album eventuell an ein paar kleinere Indie-Labels schicken, aber wahrscheinlich hätte ich es einfach auf Bandcamp gestellt. Viele Freund*innen veröffentlichen ihre Musik dort, und ich hatte schon drei Jahre daran gearbeitet, also war ich an diesem Punkt.
Das Konzept und der Titel des Albums beziehen sich auf einen Essay von Hito Steyerl mit dem Titel »In Free Fall«. Kannst du die Verbindung erläutern?
Den Essay habe ich erst entdeckt, als ich einen Titel für mein Album suchte. Ich dachte zunächst an »Free Fall«, da empfahl mir mein Partner den Essay von Hito. Als ich ihn las, fand ich darin sehr viele interessante Gedanken. Allein die Passage, wo sie über den Verlust eines stabilen Horizonts spricht… ich bekomme Gänsehaut, wenn ich darüber spreche. Sie beschreibt das Gefühl, dass man im freien Fall hat, wenn sich die Grenze zwischen dem eigenen Körper und der Umwelt auflöst. Du verschmilzt mit deiner Umgebung. Ich kannte dieses Gefühl von großartigen Konzerten, auf denen ich war, wenn ich das Gefühl bekam, ganz eins mit der Musik zu werden.
Du verlierst dich in der Musik.
Ja, du verlierst das Gefühl für Zeit, für Zeitlichkeit. Etwas, das wir gerade ohnehin kollektiv erfahren. Und nicht zuletzt gab der Umstand, dass ich Hito als Künstlerin bewundere und von der UdK kenne, der Verbindung zum Essay noch eine weitere, tiefere Bedeutung. Ich bin sehr froh, dass sie mir die Verwendung ihres Titels erlaubt hat – und auch, dass sie die Musik mochte. Da dachte ich nur: Puh. (lacht) Ich erwarte nicht, dass alle Hörer*innen einen elfseitigen Essay lesen, um die Musik zu verstehen, aber es ist eine weitere Ebene, die ich der Musik hinzufügen konnte.
Lass uns über die Musik reden. Ich bin zum Beispiel sehr gespannt zu hören, wie der Opener »Cataphora« entstanden ist.
Für mich war immer klar, dass ich mit Trompeten arbeiten will. Ich liebe Trompeten. Ich wollte einen Drone-Track schreiben für analoge Synthesizer, E-Gitarre und Blechbläser. Ich hatte diese Idee: Ich wollte mit drei Akkorden starten, und beim vierten Akkord geht es eine Oktave runter und der Bass kommt rein. Das klingt sehr theatralisch und ist von mir ein bisschen als Witz gedacht. Das ist meine Art von Humor, den keiner versteht. (lacht) Ich nahm Kelly O’Donohue auf, eine großartige Jazz-Trompeterin, deren Fähigkeiten auf dieser Platte sträflich unterfordert werden. Sie spielt mit den besten Jazz-Musiker*innen der Welt, und als sie in mein Studio kam, bat ich sie: »Kannst du ein paar sehr lange Töne für mich spielen?« (lacht) Die Struktur erinnert ein bisschen an ein Raga, weil ich einen Grundton und davon ausgehend ein tonales, harmonisches Spektrum im Kopf hatte. Ich bin keine Expertin für indische Musik, aber ich bin sehr inspiriert von ihr. Ein Raga beginnt immer damit, dass die harmonische Basis des Stückes eingeführt wird, und das ist auch die Funktion von »Cataphora«. (Pause) Entschuldige, ich bin ein Nerd… (lacht)
Nein, das ist genau die Art von Information, die mich interessiert. Können wir über »Voyager« reden? Ein Kollege vom Guardian fühlte sich bei dem Song an die B-Seite von David Bowie’s »Low« erinnert.
»Voyager« basiert auf einer starken Synthesizer-Bassline. Ich spiele alle Instrumente auf dem Song selbst. Auf manchen anderen Songs verwende ich Samples, hier verwende ich vor allem Noise-Aufnahmen, die ich gemacht habe. Ich habe im Studio mit der Synth-Melodie und verschiedenen Filtern experimentiert und herumgespielt. Vieles basiert dabei auf Zufälligkeiten.
Bist du von John Cage und seiner zufallsbasierten Komposition inspiriert?
Nicht so sehr, es geht mehr um diese glücklichen Zufälle im Studio. So nach dem Motto: »Hey, ich habe einen coolen Sound gemacht, den behalte ich.«
Verstehe, also nicht so sehr: »Ich benutze das I-Ging, um diesen Song zu komponieren.«
Nein, jedenfalls nicht auf diesem Album. (lacht)
Erzähle mir von dem Kinderchor, den du für »Mountain Larkspur« aufgenommen hast. Es ist eine erstaunliche Aufnahme und ein ganz besonderer Moment auf dem Album.
Die Aufnahme stammt aus einer Zeit, als ich für die Musikschule Friedrichshain-Kreuzberg gearbeitet habe. Durch die Musikschule hatte ich Zugang zu vielen Menschen, die Lust auf künstlerische Projekte hatten. Irgendwann habe ich darüber mal mit dem Jugendchor im Baerwaldbad gearbeitet. Wir probten für ein Projekt, und ich nahm die Proben auf. Die Chorleiterin war großartig – 13- bis 17-jährige Jugendliche dazu zu bewegen, zeitgenössische, atonale Musik zu singen, ist schon eine besondere Leistung. Und dann gab es natürlich auch noch diesen verrückten Hall eines verlassenen Schwimmbads. Jedenfalls wollte ich diese Aufnahme gern auf dem Album verwenden. Eigentlich wollte ich ein Budget finden, um noch einmal ins Schwimmbad zu gehen und alles mit guten Mikrofonen aufzunehmen, weil ich nur eine Aufnahme auf dem Telefon hatte. James Ginzburg, ein experimenteller Musiker, der ein Freund von mir ist und um die Ecke wohnt, meinte dann aber, dass man keine Hi-Fi-Aufnahme braucht. Wir haben sie zusammen im Studio bearbeitet und extrem komprimiert. Es war eine siebenminütige Aufnahme, die ich editiert und mit meinen eigenen Vocals und Synths angereichert habe. Das Ergebnis ist »Mountain Larkspur«.
Ein besonderes Stück, es ist sehr anrührend.
Ja, da ist irgendwas in den Stimmen der Jugendlichen, das direkt ins Herz geht.
Bist du stolz auf das Album?
Das bin ich. Ich habe es nicht mehr oft angehört, seit es fertig ist. Ich bin damit durch einen langen Prozess gegangen, und es gab immer wieder andere Versionen im Lauf der Zeit. Ich hoffe, dass nicht alles, was ich mache, so lange dauern wird. Und wenn doch, dann ist es auch in Ordnung.
Wie nimmst du die Rückmeldungen wahr?
Es ist überwältigend, ich hätte nie damit gerechnet. Ich wollte es einfach nur auf Bandcamp stellen. Es ist experimentelle Musik und es bewegt mich sehr, dass es offenbar so stark mit einigen Menschen resoniert.
Es ist ein intensives Album, dem man sich wirklich komplett widmen und seine Aufmerksamkeit schenken muss. Ich wollte dich bei der Gelegenheit auch nach deinem Verhältnis zu Meditation fragen, weil ich gelesen habe, dass du schon lange meditierst.
Seit ich sehr jung bin, praktiziere ich Yoga. Die Mutter meiner besten Freundin in Jerusalem war Yogalehrerin, lange vor dem aktuellen Yoga-Hype. Sie lehrte Iyengar-Yoga, was nicht gerade die coolste Yoga-Richtung ist. (lacht) Ihre Familie lebte vegan, und sie fuhren häufig nach Indien und brachten uns Sachen von dort mit. Diese Frau war ein großer Einfluss auf mich. Sie war eine Art Hippie, in der besten Weise. (lacht) Sie übte Meditation mit uns, als wir noch Jugendliche waren. Als ich dann mit der UdK fertig war, bin ich für zwei Monate nach Südindien gegangen, um eine Ausbildung zur Yogalehrerin zu machen. Meditation war ein großer Teil dieser Ausbildung. Der körperliche Teil von Yoga ist eine Vorbereitung auf die Meditation, heißt es. Seitdem habe ich mir viel Zeit genommen, um in Stille zu sitzen. Direkt vor der Pandemie habe ich mein erstes zehntägiges Schweige-Meditations-Retreat absolviert. Hast du so etwas schon mal gemacht?
Ja, mehrere Male. Ich versuche eigentlich, jedes Jahr ein Schweige-Retreat zu machen.
Machst du Vipassana?
Ich habe mit Vipassana angefangen, bin aber vor einigen Jahren zum Zen gewechselt. Seitdem gehe ich einmal im Jahr ins Sesshin.
Interessant. Ich hatte beim Vipassana eine großartige Zeit. Bei vielen ist es ja nicht so, aber ich hatte wirklich viel Spaß. Für mich war es vor allem eine Studie im Zeitempfinden. Denn letztlich ist der einzige Raum, den Musik okkupiert, die Zeit. Jetzt habe ich eine LP gemacht, und es gibt auch ein paar Daten in irgendeiner Cloud. (lacht) Ein anderer Aspekt war auch noch interessant: Wie gesagt, fand das Retreat direkt vor Beginn der Pandemie statt, im Jordangraben in Israel. Die ersten Geschichten von einem Virus aus China kursierten in den Medien bereits, als ich ins Retreat ging. Die Vorstellung, für zehn Tage zu meditieren, während irgendetwas passiert und niemand mich erreichen kann, war beängstigend. Natürlich kann meine Familie auch in dem Zentrum anrufen, in dem ich mich aufhalte, aber ich weiß auch nicht… es ist ein sehr spezielles Jerusalem-Ding. Weil ich während der Intifadas als Teenager in Jerusalem aufgewachsen bin, gab es da eine gewisse mentale Grenze. Diese Hürde musste ich überschreiten. Als ich aus dem Retreat zurückkam, schrieb ich »Sadder Than Water« und »Body, Electric«.
Meditation verbindet dich in einer besonderen Weise mit deinem Körper.
Ja, beim Vipassana geht es darum, die elektrischen Strömungen in deinem Körper zu spüren. Und nach zehn Tagen spürst du sie wirklich. (lacht)
Ich wollte nach dem zweiten Tag beinahe aufhören. Ich konnte die Schmerzen kaum noch aushalten.
Ich hatte keine körperlichen Beschwerden. Zum Glück kann mein Körper die langen Sitzperioden leicht verkraften, da hilft mir sicher auch die langjährige Yoga-Erfahrung. Gerade in der Pandemie war es für mich aber sehr wichtig, diese Ruhephasen zu finden. Denn viele von uns haben zunächst digital überkommuniziert, einfach um die mangelnde körperliche Nähe zu kompensieren und die physische Distanz zu überbrücken. Da braucht man ein Gegengift.
Dein Album gibt uns die Möglichkeit eines solchen Rückzugs. Dazu muss man sich aber auf ein »Deep Listening« einlassen – und das fällt vielen von uns inzwischen schwer, weil unsere Aufmerksamkeitsspannen durch digitale Kommunikation verkürzt sind.
Eines der besten Bücher, die ich zu dem Thema in den letzten Monaten gelesen habe, ist Jenny Odells »How To Do Nothing«.
Oh, ich liebe dieses Buch.
Ja, und natürlich bin ich auch fehlerhaft, weil ich einen Instagram-Account habe. Aber das coole an ihrem Buch ist, dass es nicht dogmatisch ist. Sie sagt uns ja nicht, dass wir alle unsere Accounts sofort löschen müssen, sondern dass wir etwas mehr Bewusstsein entwickeln sollten. Ich arbeite ja selbst in einer Tech-Company [Maya arbeitet für den Berliner Musiksoftware-Entwickler Ableton, Anm. d. Autors], aber auch als Musikerin bin ich Teil des ständigen Kampfes um Aufmerksamkeit. Ein anderer Aspekt in diesem Buch ist diese Idee, dass man Stille oder Ruhe in unserer Gesellschaft nur dann akzeptiert, wenn sie dazu dient, dass man anschließend produktiver ist…
…eine zutiefst kapitalistische Vorstellung…
Ja, und deswegen glaube ich, dass es wichtig ist, auf künstlerischer Ebene Raum für Stille und Langsamkeit zuzulassen. Ich habe das auf meinem Album zumindest versucht.
Denkst du, dass du deine musikalische Stimme gefunden hast?
Ich stochere nicht mehr im Dunklen herum, so wie vielleicht noch vor drei Jahren. Etwas, worüber ich zukünftig weiter nachdenken möchte, ist diese Zusammenführung von Deep Listening, Kontrapunkt und anderen Ideen, über die wir gesprochen habe. Andererseits möchte ich flexibel bleiben und mich nicht auf die Ideen, an denen ich bisher gearbeitet habe, beschränken lassen.
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© 2022 Stephan Kunze