Zen Sounds 011: »The only constant in life is change«
Mit Musik von Raum, Maria Moles, Félicia Atkinson & Jefre Cantu-Ledesma, Martyna Basta und Nate Scheible
Die einzige Konstante im Leben ist die Veränderung, sagte einst der griechische Philosoph Heraklit, und auch wenn dieser Satz für dich klingen mag wie ein Kalenderspruch, kannst du seine profunde Weisheit doch immer wieder erleben. Denn tatsächlich bleibt nichts gleich, nichts bleibt beim Alten, nie bleibt jemand die- oder derselbe. Ich bin jetzt schon nicht mehr, wer ich gerade eben noch war. In wenigen Jahren werden sich alle Zellen, aus denen mein Körper besteht, einmal komplett erneuert haben. Wie absurd erscheint angesichts dieses Umstandes die Forderung, man solle doch immer man selbst bleiben. Was soll das bitte sein, dieses Selbst?
Auf der Suche nach Konstanten in meinem Leben finde ich vor allem die Musik und das Schreiben, die beiden Pole, zwischen denen meine Existenz seit nunmehr drei Jahrzehnten oszilliert. Über Musik zu schreiben und daraus so etwas ähnliches wie einen Beruf zu machen, das war die logische Konsequenz daraus. In den letzten Jahren habe ich mich beruflich immer weiter davon entfernt, doch ich bin froh, dass ich über diesen Newsletter zurückgefunden habe in eine regelmäßige Praxis des Schreibens über Musik. Es ist ganz einfach das, was ich mit meiner Zeit am liebsten mache, wenn ich nicht gerade draußen in der Natur bin oder Zeit mit meiner Familie verbringe (gern auch beides zusammen).
Was sich trotz dieser Konstanten immer wieder verändert hat, ist der Gegenstand meiner Betrachtungen. Meine musikalische Neugier hat mich tiefer und tiefer in den Kaninchenbau getrieben, von House und Hip-Hop zu Jazz und Dub, über Industrial und Krautrock hin zu Neuer und experimenteller Musik. Momentan verbringe ich viel Zeit damit, elektroakustische Kompositionen wie Iannis Xenakis’ »Bohor« (1962) oder Musique Concrète wie Luc Ferraris »Cycle de Souvenirs« (1995-2000) zu studieren. Das sage ich nicht, um mit meinem erlesenen Geschmack anzugeben, sondern um zu illustrieren, wie weit sich meine Interessen von Zeiten entfernt haben, in denen ich mich vor allem mit zeitgenössischem Rap und Clubkultur beschäftigt habe. (Ich kann einem guten Rap-Song oder House-Track im richtigen Moment immer noch sehr viel abgewinnen.)
Im Kern bin ich immer noch das staunende Kind, das die Credits auf den Schallplattenhüllen der elterlichen Sammlung studiert, auf den Alben von Tangerine Dream, Roxy Music und den Beach Boys. Nur sind die Geschichten und Klänge, die mich heute begeistern, andere als noch vor fünf, zehn oder 20 Jahren. Nostalgie hat ihren Platz in meiner Musikrezeption, aber ich gewähre ihr nicht allzu viel Raum. Stattdessen suche ich stets nach dem Neuen, dem Unbekannten, nach der Vertonung der Veränderung. Nach Musik, die ich so noch nicht gehört habe; die mich staunen und fragen lässt, wie sie gemacht wurde; die Gefühle auslöst, die ich nicht auf Anhieb verstehe. Das ist die Musik, der ich in »Zen Sounds« ein Forum geben will.
Album der Ausgabe
Raum – »Daughter« (Yellowelectric, 2022)
Bis gestern abend war dieser Platz noch leer geblieben, so als hätte ich eine Vorahnung gehabt, dass noch etwas ganz besonderes passiert. Und dann erreichte mich tatsächlich in letzter Minute eine E-Mail von Liz Harris’ Bandcamp-Seite, mit dem Hinweis auf ein neues, soeben veröffentlichtes Album – kein neues Grouper-Album (immerhin ist mit »Shade« vor wenigen Monaten erst eins erschienen), sondern ein geheimnisvolles Projekt namens Raum. Eine kurze Recherche ergab, dass Harris unter diesem Namen zusammen mit dem experimentellen Musiker Jefre Cantu-Ledesma schon mal ein Duo-Album veröffentlicht hat, vor neun Jahren war das, und nun, ohne jegliche Vorwarnung, ist der Nachfolger »Daughter« erschienen, laut Pressetext ein Requiem für einen verstorbenen Freund der beiden, den experimentellen Filmemacher Paul Clipson.
Das Gros des Materials stammt aus dem Jahr 2016, als Harris und Cantu-Ledesma zusammen mit Clipson in Marfa waren, im Süden von Texas. Dies war der letzte Moment, als sich alle drei am selben Ort aufhielten, und nach Clipsons Tod 2018 war es Harris und Cantu-Ledesma zunächst unmöglich, das Material fertigzustellen. Es dauerte ein paar Jahre, bis sie es wieder anfassen konnten. Das Clipson gewidmete Album ist eine lange Drone-Suite aus sieben Stücken, die den Geist der texanischen Wüste einfangen – man spürt die sengende Hitze, man hört die Schritte langer Wanderungen, den morgendlichen Gesang der Vögel und das Surren von Clipsons Filmprojektor. Harris setzt ihren charakteristischen Gesang nur sporadisch ein und dann ganz ohne Worte; abseits davon ist unklar, wer hier was beisteuert, auch wenn die akustischen Sounds eher nach Harris klingen und die elektronischen Sounds eher nach Cantu-Ledesma, holzschnittartig gesagt.
Der Titel des Albums bezieht sich darauf, dass Cantu-Ledesma während der Aufnahmen gerade im Begriff war, Vater einer Tochter zu werden. Und so ist »Daughter« ein Album geworden, das schmerzvolle Erinnerungen an Veränderung und Transformation in sich trägt, aber auch die Erwartung eines hoffnungsvollen Neubeginns. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, schrieb Hermann Hesse, und tatsächlich wohnt dieser Zauber in jeder Sekunde der einstündigen Spielzeit von »Daughter«. Es ist ein wehmütiges, streckenweise tieftrauriges Album, das gleichzeitig die Schönheit des Kreislaufs der Vergänglichkeit feiert – eine Ode an das Leben selbst.
Maria Moles – »For Leolanda« (Room40, 2022)
Room40, das Label des australischen Ambient-Musikers Lawrence English, veröffentlicht seit einiger Zeit Alben in außerordentlicher Schlagzahl, und auch wenn vieles, was dort erscheint, sehr interessant wirkt, ist längst nicht alles von so hohem Replay-Wert gekennzeichnet wie dieses beeindruckende Album.
»For Leolanda« ist der Mutter von Maria Moles gewidmet. Moles, eine australisch-philippinische Komponistin und Schlagzeugerin, spielt u.a. Drums in der Band von Jonnine Standish, der Sängerin der australischen Band HTRK. Im Lockdown komponierte Moles vier längere Stücke, die allesamt vom Kulintang beeinflusst sind, einer traditionellen indigenen Musik Südostasiens. Dabei pendelt ihre Interpretation zwischen den meditativen Klängen von Gongs und Glockenspielen und rhythmisch treibenden Percussion-Passagen. Mit den Mitteln der elektroakustischen Komposition setzt Moles sich auf »For Leolanda« mit ihrer eigenen kulturellen Herkunft auseinander, schafft aber gleichzeitig auch einen sicheren Raum für den temporären Rückzug vor der Bedrohung im Außen.
Félicia Atkinson & Jefre Cantu-Ledesma – »Un hiver en plein été« (Shelter Press, 2021)
Jefre Cantu-Ledesma, die Zweite. Der umtriebige Musiker aus San Francisco ist zur Zeit überaus produktiv, insbesondere in Kollaborationen. Dies ist bereits sein drittes gemeinsames Album mit der französischen Komponistin Félicia Atkinson, aber es ist das erste, an dem sie gemeinsam im Studio gearbeitet haben. Die besondere Chemie zwischen ihnen kommt in diesen Aufnahmen aus dem August 2019 besonders deutlich zur Geltung. Atkinsons ASMR-Vocals und Cantu-Ledesmas Synthie-Wolken harmonieren schon im Opener »And All The Spirals Of The World« perfekt miteinander, und wenn im Weiteren noch Klavier und Field Recordings hinzukommmen, bietet das Album alles andere als belanglosen Playlisten-Ambient, den man anhand dieser unzureichenden Beschreibung erwarten könnte. Im Gegenteil, »Un hiver en plein été« überrascht immer wieder mit ungewöhnlichen Kombinationen und unerwarteten Abzweigungen in Richtung indischer Ragas oder Free Jazz, die sich immer dann plötzlich auftun, wenn man glaubt, das Album »verstanden« zu haben. Das ist experimentelle Musik im eigentlichen Wortsinne – Musik, die vorher in dieser Form noch nicht existiert hat.
Martyna Basta – »Making Eye Contact With Solitude« (Warm Winters Ltd., 2021)
Martyna Basta stammt aus Krakau, und ihre bisherigen Releases waren ausschließlich im Eigenvertrieb erhältlich. Diese neue EP, die bislang ihr mit Abstand stärkstes Material enthält, erscheint nun bei Warm Winters Ltd., einem kleinen Label aus Bratislava mit superbem Katalog (Marta Forsberg, Kajsa Lindgren etc.), das erst seit ein paar Jahren existiert. »Making Eye Contact With Solitude« ist eine Meditation über den Unterschied zwischen Alleinsein und Einsamkeit, über »rituality, repetitiveness and the cyclical nature of our existence«. Hier arbeitet die Polin vor allem mit Field Recordings und ihrer eigenen (manipulierten) Stimme, aber auch mit Geige, Zither und Cembalo. Bastas Musik erinnert streckenweise durchaus an den introspektiven Gen-Z-Ambient von claire rousay, das wunderbare »Unknown Reel Tape« klingt hingegen wie eine Mischung aus Dead Can Dance und William Basinski. Muss man mehr sagen?
Re-Issue Corner
Nate Scheible – »Fairfax« (Warm Winters Ltd., 2017/2022)
Eine ganz besondere Platte hat der amerikanische Komponist Nate Scheible vor fünf Jahren aufgenommen. In einem Trödelladen in Fairfax, einer Kleinstadt in seinem Heimatstaat Virginia, erstand er eine Kassette mit Sprachaufnahmen einer Frau, die diese für eine*n unbekannte*n Dritte*n hinterlassen hatte, vermutlich auf einem Anrufbeantworter. Inspiriert von den herzergreifenden Liebeserklärungen der namenlosen Frau, schrieb Scheible mit einigen Musiker*innen einen zutiefst emotionalen, aber dennoch reduzierten Soundtrack aus Drones, Synthies, Bass, Saxofon und Vibrafon. Die Stücke wurden quasi um Ausschnitte von der Kassette herum komponiert, und als Hörer*in entwickelt man im Laufe des Albums so etwas wie eine Beziehung zu der offenbar kranken Frau, zu ihrer Unsicherheit, ihrer Zerbrechlichkeit und ihrer Menschlichkeit.
Wie gesagt, es ist eine ganz besondere, unglaublich anrührende Platte, die Nate Scheible da vor fünf Jahren aufgenommen hat – um so schöner, dass es nun eine Wiederveröffentlichung gibt, die dem Album noch einmal neue Aufmerksamkeit zuteil werden lässt. Ich habe es jetzt erst entdeckt und bin mir jetzt schon sicher, dass es mich für längere Zeit begleiten wird.
Neil Kurkarni hat für The Quietus ein Interview mit Nate Scheible geführt.
Folge der »Zen Sounds«-Playlist:
© 2022 Stephan Kunze