Zen Sounds 010: »Art is not, in essence, personal«
Mit Musik von Burial, Bonobo, Ekin Fil, Soshi Takeda, Shinichi Atobe, Danny Norbury, Martha Skye Murphy & Maxwell Sterling und Earl Sweatshirt
Das Jahr 2022 begann für mich mit zwei hervorragenden Büchern.
Das erste war Having and Being Had von Eula Biss. Die Autorin, die als Mitglied der kreativen Klasse nie sonderlich viel Geld verdient hat, kommt plötzlich durch eine Festanstellung als Professorin an einer Privatuniversität in die unerwartete Situation, sich mit ihrem Ehemann ein Haus kaufen zu können. Ihre Wahl fällt auf einen klassischen Bungalow in einem traditionell afroamerikanisch geprägten Viertel von Chicago.
Angesichts dieses Kaufs beschäftigt sie sich mit Fragen zu Kunst und Kapitalismus, zu Konsum und Gentrifizierung. Sie hinterfragt die Umstände, in denen sie lebt, ohne sich selbst aus der Gleichung zu entfernen. Dabei geht sie mit schonungsloser Transparenz vor, aber auch mit intellektuellem Scharfsinn. Ich empfehle dieses Buch jeder Leserin, die sich schon einmal gefragt hat, ob es ein richtiges Leben im falschen System geben kann. Erwartet jedoch bitte keine einfachen, eindeutigen Antworten.
Das zweite Buch, das ich erst gestern nacht beendet habe, war On Freedom von Maggie Nelson. Vor einigen Jahren habe ich The Argonauts verschlungen, ihren autobiografisch-philosophischen Roman über die Entstehung ihrer queeren Kleinfamilie, inklusive künstlicher Befruchtung und geschlechtsangleichender Maßnahmen. In ihrem neuen Essay setzt sie sich mit dem aus der Mode gekommenen und von der alternativen Rechten in Beschlag genommenen Freiheitsbegriff auseinander, und zwar auf vier Ebenen: Kunst, Sex, Drogen und Klimapolitik.
Nelson schreibt ganz anders als Biss, nicht so lakonisch, sondern eher wortgewaltig, mit langen Satzungetümen und ausufernden Einschüben. Stilistisch bin ich eher bei Biss, doch auch dieser kluge Essay hat mich beeindruckt. Nelson benennt in allen vier Bereichen interessante Implikationen unseres Freiheitsverständnisses und zitiert dabei reichlich queerfeministische Theoretiker*innen. Wieder gilt: Wer auf der Suche nach einfachen Wahrheiten ist, wird nicht fündig werden.
So untersucht Nelson unter anderem die Fragestellung, inwieweit Künstler*innen für potenzielle Verletzungen von Betrachter*innen durch ihr Werk verantwortlich gemacht werden können. Nelson hält hier überraschenderweise gegen die herrschende Meinung im feministisch-identitätspolitischen Diskurs und argumentiert stattdessen leidenschaftlich im Sinne der Kunstfreiheit. Ihr Kernargument: Künstler*innen seien keine Care-Arbeiter*innen. Ich tendiere dazu, ihr in diesem Punkt (und auch in vielen anderen) zuzustimmen.
»Art, while it can be felt or taken personally, is not, in essence, personal. The presumption that making a sculpture or writing a novel is somehow on par with entering into an intimate relationship with a viewer or reader, with all the emotional responsibility such a relation typically entails, is a mistake. It is a mistake related to that of thinking we personally know an actor because she stars in our favorite movie, or that we are close to a singer because he has crooned through our headphones at a fraught emotional juncture. The increased accessibility of public figures via social media has made this mistake all the more prevalent: just because it’s more possible now to reach people to tell them how their art has made us feel, it does not follow that they are more responsible for our feelings.«
Und weiter:
»Refusing to take up the burden of how one’s art may make innumerable, heterogenous, essentially uncontrollable others feel does not to me signify ethical failure. It may in fact signify sane boundaries in a world dedicated – by means of targeted advertising, shared Google calendars, Paperless Post invitations urgently awaiting your response, 24/7 availability to the approximately 3.4 billion people around the globe using email and social media – to their erosion. Such erosion presumes that one’s attention, which is a form of one’s care, is something than can be demanded by anyone in the world with strong feelings and access to Wi-Fi. Becoming exhausted by (or addicted to) this attention economy, as so many report feeling, takes time away from the activities and people we purportedly care about the most.«
Album der Ausgabe
Burial – »Antidawn EP« (Hyperdub, 2022)
Es ist Winter: Burial-Zeit. Sein letztes Album »Untrue« feiert in diesem Jahr sein 15-jähriges Jubiläum, in der letzten Dekade veröffentlichte der mysteriöse britische Producer im Schnitt zwei neue Stücke pro Jahr. Die gingen musikalisch zumeist in eine von zwei Richtungen: Nostalgische Hardcore-Continuum-Suiten und melancholische Ambient-Tracks. Diese fünf neuen Songs gehören zur letzteren Variante; Beats gibt es nur einmal ganz zaghaft und leise im Hintergrund zu hören, wie das Vibrieren des Mainfloors, das einen bis in die Clubtoilette verfolgt.
Der Club findet auf »Antidawn« nur noch als ferne Erinnerung statt, das passt natürlich zu unserem kollektiven Pandemie-Erleben. Ohne die typischen Garage-Drums und Hardcore-Referenzen wirkt die Musik beinahe strukturlos. Die bekannten Signale sind allerdings unüberhörbar: Vinylknistern und Regengeräusche, sirenenartige Stimmen, Kirchenorgeln, Flüstern, ein geisterhaftes Summen, das plötzlich abrupt abbricht. Doch in all der Dunkelheit glüht stets ein Hoffnungsschimmer, irgendwo brennt immer noch ein Licht.
Bonobo – »Fragments« (Ninja Tune, 2022)
Simon Green ist die Sorte elektronischer Musiker, auf die sich gemeinhin fast jede*r einigen kann. Diese Konsensfähigkeit brachte ihm schon Grammy-Nominierungen, prominente Festivalbookings, ausverkaufte Tourneen und mit »Migration« (2017) zuletzt sogar ein Top-10-Album ein. Seine detailverliebte, reich instrumentierte Musik traut sich zwar nicht so viel, trifft dafür jedoch Gefühle und Stimmungen oft genug auf den Punkt. Auf seinem siebten Album »Fragments« entdeckt Bonobo den modularen Synthesizer und kooperiert wie schon auf den Vorgängern mit verschiedenen Sänger*innen: Jamila Woods, Jordan Rakei, Khadja Bonet, Joji. »Fragments« ist ein bombastisches, kathartisches Werk, streckenweise ungewohnt tanzbar, streckenweise ungewohnt soulig, doch stets von enormer emotionaler Tiefe.
Ekin Fil – »Feelings« (A Sunken Mall, 2021)
Die türkische Singer-Songwriterin Ekin Fil bewegt sich irgendwo zwischen Lo-Fi Folk, Shoegaze und Ambient; sie wurde auch schon als »Drone-Pop Composer« bezeichnet. Wer jetzt an Grouper denkt, liegt nicht vollkommen falsch. Ich fühlte mich beim Hören positiv an Liz Harris’ »Ruins«-Phase erinnert – und meine das ganz entschieden als Kompliment. Im Zentrum von »Feelings« stehen Fils Stimme, ertrinkend in reichlich Hall und Delay, und ihr präpariertes Klavier, untermalt von eisigen Drones. Geschrieben hat sie das Album über ein Jahr in der Pandemie, um ihre Gefühle von Angst und Isolation, aber auch ihren immer wieder leise aufflackernden Optimismus auszudrücken. Eine düstere, zarte, schöne Platte.
Soshi Takeda – »Same Place, Another Time« (Constellation Tatsu, 2022)
Ganz anders hingegen klingt Soshi Takeda. Vor drei Monaten erst hat der bis dato unbekannte Produzent aus Tokio mit »Floating Mountains« ein überraschendes Debütalbum veröffentlicht. Mit analoger Hardware und Synthesizern aus den 1990ern schraubt er an komplett unironischen, farbenfrohen New-Age-Beats mit balearischen Texturen und jenem typischen, unimitierbar japanischen Ambient-Einschlag. Auch die EP »Same Place, Another Time« ist wieder Klang gewordener Eskapismus, zu verorten irgendwo zwischen Susumu Yokota, Mark Barrott und Yasuaki Shimizu, eignet sich jedoch wegen der Detailverliebtheit seiner Kompositionen nicht nur zur Berieselung, sondern auch zum entschiedenen Deep Listening.
Shinichi Atobe – »Love Of Plastic« (DDS, 2022)
Über den mysteriösen Shinichi Atobe, der vor 22 Jahren eine einzige Maxi über das Berliner Chain-Reaction-Label veröffentlichte und danach für 14 Jahre in der Versenkung verschwand, weiß man wenig. Seit 2014 erscheinen über das Label des britischen Experimental-Duos Demdike Stare dennoch regelmäßig neue Werke des gesichtslosen Produzenten, der angeblich in Saitama, einer gesichtslosen Millionenstadt nördlich von Tokio, lebt und seine Alben stets auf CD gebrannt nach Manchester schickt, mit nichts als einem Beipackzettel versehen, auf dem die Songtitel notiert sind. Atobes Produktionen zwischen Dub Techno und Deep House zeichnen sich durch eine tiefe melancholische Wärme aus, die auch sein neues Album »Love Of Plastic« durchzieht. Dass seine Musik einfach nicht langweilig werden will, liegt an seinem untrüglichen Gespür für einfache und doch emotionale Loops.
Danny Norbury – »rue d’Aligre« (Longform Editions, 2021)
Im Mittelpunkt dieser 18-minütigen Komposition stehen Feldaufnahmen des Marché d’Aligre im schicken Pariser Quinze-Vingt-Viertel. Danny Norbury aus Manchester reichert seine Aufzeichnungen des dortigen Stimmgewirrs in den unterschiedlichsten Sprachen vorsichtig mit den Klängen von Klavier, Cello und einem schottischen Tasteninstrument namens Dulcitone an. Ein leises Stück, das eigenen Erinnerungen und Empfindungen einen geschützten Raum zur Entfaltung gibt.
Aus Norburys Bandcamp-Pressetext:
»Morton Feldman wrote that the true nature of a sound was to be found in the decay; the sounds are leaving us. A beautiful thought. I love listening to near silence. I was recently alone at home in the daytime and for some reason had a feeling of great peace. I went to cook something and realised there was a power cut. Then later the power came back on I heard all the sounds that I accept in my life: the compressor of the fridge, a general high-pitched sound that comes from god knows where, etc. And yet, all those sounds will never happen again in quite the same way. They will never be punctuated by a siren, nor by a neighbour shouting at that very moment ever again. That almost nothing that is so beautiful.«
Martha Skye Murphy & Maxwell Sterling – »Distance On Ground« (American Dreams, 2022)
Die Sängerin Martha Skye Murphy und der Bassist Maxwell Sterling haben sich während der Pandemie zweimal getroffen und stundenlang improvisiert. Aus den Aufnahmen haben sie zwei lange Stücke destilliert und editiert, die nun analog auf Kassette und digital als Files erschienen sind. »86 km« und »93.3 km« heißen diese Stücke, und sie beschäftigen sich mit der variablen Empfindung von Entfernungen beim Reisen mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln. Auf der zugehörigen interaktiven Website kann man die Musik hören, untermalt von Kameraaufnahmen aus ländlichen Gegenden und Großstädten, aus Flugzeugen und Autos. Mich zieht diese selbst für »Zen Sounds«-Verhältnisse recht experimentelle Mischung aus Drones, wortlosem Gesang und unorthodoxem Bassspiel tief in ihren Bann.
Bonus Beats
Earl Sweatshirt – »SICK!« (Tan Cressida, 2022)
Earl Sweatshirt ist erst 27 Jahre alt, doch in ihm wohnt eine alte Seele. Das erklärte Ziel seines neuen Albums »SICK!« ist es, seine Hörer*innenschaft »auf halbem Weg zu treffen«. Zu den leiernden LoFi-Loops, die wir von »Some Rap Songs« und »Feet Of Clay« kennen, gesellen sich hier psychedelische Trap-Beats von Black Noi$e aus Detroit. Earls nuschelt darüber emotionale Reime von mathematischer Präzision. Depression und Trauma schimmern als thematischer Rahmen immer noch durch, doch Earl befindet sich in einer neuen Lebensphase, in der er sich einen illusionslosen Optimismus erlauben kann. Es macht Spaß, ihm bei seinem Aufstieg aus dem tiefen Tal zuzuhören.
Danke fürs Lesen!
Folgt meiner Playlist:
© Stephan Kunze 2022