Zen Sounds 007: »Always on the brink of being marginalized as an artist«
Mit Musik von Olivia Block, Perila, claire rousay und Felisha Ledesma
Ambient, elektroakustische Musik und der male gaze
Meine Liebe zur Ambient-Musik begann mit Harold Budds »The Pavilion Of Dreams«, einer von Brian Eno produzierten Platte von 1978. Als ich sie vor vielen Jahren entdeckte, war ich zum ersten Mal überwältigt von ihrer Schönheit. Was dazu führte, dass ich jahrelang den Katalog von Eno und Budd, aber auch von Künstlern wie William Basinski, Hans-Joachim Roedelius, Jon Hassell oder Richard D. James erforschte.
Was fällt bei dieser Aufzählung auf? Richtig – alles Männer. Frauen wie Pauline Oliveros, Laurie Spiegel und Suzanne Ciani, die schon in den 1970er Jahren experimentelle Musik auf Synthesizern komponierten, waren lange die Ausnahme. »Ernsthafte« elektronische und elektroakustische Musik, so schien es, wurde nicht nur beinahe ausschließlich von Männern gemacht, sondern vor allem auch meist von Männern besprochen und bewertet – was wiederum Auswirkungen auf alle Kunstschaffenden und ihre Perspektive hatte. In der feministischen Filmtheorie nennt man dieses Phänomen den male gaze, eine Beherrschung der künstlerischen Sphäre durch den männlichen Blick auf die Welt.
In einem Interview, das die amerikanische Komponistin Olivia Block dem Musikjournalisten Andy Beta im Jahr 2002 gegeben hat, beschreibt sie ganz konkret, warum sie sich als Außenseiterin in ihrer Musikszene empfindet:
“I do not think that, if the electroacoustic community consisted mostly of women, that the aesthetic 'truth' would be the same as it is now. It is nebulous to me, knowing what is artistically 'correct' or not. It seems like a sense that I cannot have in the same way as a man. I have to think very consciously when I listen to something in this genre, 'What is this?', ' What kind of work is going into this?', 'Is this a worthwhile piece or not?', whereas I think if I were a man, I might just listen to it and think, immediately, 'this sucks' or 'this is really good.' It would be an inherent sense. A man might say that these issues aren't important, that work should just be done and one doesn't have to be so concerned about artistic context and history. But I cannot say that so casually, because I feel like I am always on the brink of being marginalized as an artist because of my gender (am I a 'composer' or am I a 'female composer'?) so I must be extra informed so that I can create work which is 'relevant' and insert my own desire to change the genre within that work, in a subtle way.”
Auch dieser Newsletter ist allein aufgrund der Tatsache, dass er von einem weißen Hetero-Cis-Mann verfasst wird, vom male gaze geprägt. Umso wichtiger erscheint es mir, Stimmen von weiblichen und nonbinären Künstler*innen zu verstärken.
In den letzten Wochen und Monaten haben gerade solche Künstler*innen wichtige Impulse in der elektronischen Ambient-Musik gesetzt. Ein paar davon möchte ich hier anhand ihrer aktuellen Veröffentlichungen vorstellen.
Olivia Block
»October, 1984« (Longform Editions, 2021)
»Innocent Passage In The Territorial Sea« (Room40, 2021)
Die erwähnte Olivia Block stammt aus Texas, lebt aber seit mehr als 20 Jahren in Chicago. Sie hat im letzten Jahr zwei Werke veröffentlicht, die mich tief beeindruckt haben und auf die ich gleich konkret zu sprechen kommen werde.
In dem bereits zitierten Interview erzählt Block von ihren musikalischen Anfängen im Austin der 1990er Jahre, als Sängerin einer Band namens The Marble Index (benannt nach einem Nico-Album). Damals war sie laut eigener Aussage beeinflusst von Künstler*innen wie Velvet Underground, Brian Enos Produktionen für Talking Heads, Devo und David Bowie, Sonic Youth, Joy Division/New Order und My Bloody Valentine, also von progressivem Art- und Indie-Rock.
Irgendwann, so erzählt sie, habe sie begonnen, sich für Musik jenseits von Rock und Pop zu interessieren und Konzeptkunst-Gruppen wie Hafler Trio zu hören.
“Singing words became very stifling, and I began to feel that words intruded upon the music itself. That music had its own language and the two things should not always be present together. (…) I always paid attention to the music first, and the words for me were some sort of interesting layer top that spoke to a different part of consciousness.”
Block hörte auf zu singen, beschäftigte sich mit experimenteller Musik, zog nach Chicago und veröffentlichte 1998 ihr erstes Soloalbum »Pure Gaze«, beeinflusst von Avantgarde-Pionierinnen wie Pauline Oliveros und Kaffe Matthews. Immer wieder suchte sie bewusst deren Nähe – nicht nur um musikalische Inspiration zu gewinnen, sondern auch um zu erfahren, wie sie ihr Leben gestalten.
Im August 2021 veröffentlichte Block die Soundcollage »October, 1984« , die aus Feldaufnahmen von extremen Wettergeräuschen, Stimmen von zufällig gekauften Kassetten und Fetzen einer Orchesteraufnahme bestand; eine 20-minütige Komposition von gewaltiger Intensität. Im Pressetext wurde sie beschrieben als Reflektion über »eine überwältigende kollektive Erfahrung menschlicher Angst und Trauer über die Zerstörung der natürlichen Welt und den unvermeidlichen Vefall und die Obsoleszenz der westlichen (insbesondere amerikanischen) Kultur«.
Ihr neuestes Album »Innocent Passage In The Territorial Sea« veröffentlichte sie im November über Room40, das Label des australischen Ambient-Musikers Lawrence English. Es klingt anders als alles, was sie bisher komponiert hat.
Durch die Lockdowns ihres sozialen Lebens und ihrer Auftrittsmöglichkeiten beraubt, übte Block sich in der Technik des Deep Listening. Dabei handelt es sich um eine von Pauline Oliveros entwickelte Meditationstechnik, eine Art achtsames, intensives (Zu-)Hören. Im Rahmen solcher Sitzungen experimentierte sie auf psychedelischen Pilzen mit einem alten Korg-Synthesizer und ihren eigenen Aufnahmen eines kaputten Mellotrons. Das Ergebnis ist dieses beeindruckende Werk.
Das Bild von Musik als »Soundtrack zu einem imaginären Film« ist eine der ältesten musikjournalistischen Phrasen. Doch in diesem Fall nutzt die Künstlerin selbst die abgegriffene Metapher, allerdings mit einem entscheidenden Dreh: Der Film, in dem wir uns befinden, ist in diesem Fall die Wirklichkeit, namentlich die Corona-Pandemie, und dieses Album beschwört die dystopische, beklemmende Stimmung, die während der Lockdowns zu spüren war – und immer noch zu spüren ist.
Perila
»How much time it is between you and me?« (Smalltown Supersound, 2021)
»7.37/2.11« (A Sunken Mall, 2021)
Perila heißt eigentlich Aleksandra Zakharenko, stammt aus St. Petersburg, lebt in Berlin und veröffentlicht seit einigen Jahren Ambient-Musik vor allem über Bandcamp. Ihrer Musik wird oft eine intime, sensorische Qualität zugesprochen, die an ASMR erinnert.
Im letzten Jahr veröffentlichte Zakharenko ihr bislang ambitioniertestes Album »How much time is it between you and me?« über das norwegische Label Smalltown Supersound. In einem Pitchfork-Interview erzählte sie, dass sie die Musik in einem abgelegenen französischen Bergdorf schrieb, in dem ihre Tante ein Haus besitzt. Ohne Internetzugang verbrachte sie die Tage dort vollkommen alleine mit langen Wanderungen. Sie sprach mit niemandem, nahm einfache Mahlzeiten zu sich und schlief in einem kleinen Dachgeschosszimmer.
Zakharenko liebt es, sich zum Komponieren in die wilde Natur zurückzuziehen. Musikalisch rekreiert sie bestimmte Klangmuster wie den Fluß, den sie nachts in ihrem Bett liegend als einzig konstantes Geräusch hörte. Ihre Musik eignet sich allerdings nicht wirklich als Hintergrundgeräusch. Stattdessen entfaltet sich ihre Wirkung am besten auf Noise-Canceling-Kopfhörern oder über gute Lautsprecher in einer ansonsten vollkommen stillen Umgebung.
Die auf das Album folgende EP »7.37/2.11« ist während der ersten Monate der Pandemie im Jahr 2020 entstanden. Es ist introspektive Musik, die Perila aus weißem Rauschen, Field Recordings, Klavierakkorden und ihrer eigenen Stimme zusammenzimmert. »Everything Is Already There«, heißt eines ihrer Alben aus dem Jahr 2020, und der Titel verweist darauf, dass man im Prinzip gar keine neuen Klänge erschaffen muss, weil alles, was man braucht, längst vorhanden ist. Man muss nur den Alltags- und Naturgeräuschen, die oft ignoriert werden, etwas Beachtung schenken.
Übrigens hat Zakharenko früher einmal experimentelle Techno-Musik komponiert. Auf die Frage, ob sie immer noch hin und wieder mit Beats arbeitet, antwortet sie im Interview mit Philip Sherburne:
»Sometimes I’ll try to make a track with beats, and I’m like, ‘Oh, cool beats.’ But then they become so mechanical and patterned, and I just get bored. And then I delete all the beats and add some chaotic field recordings and I’m like, ‘Yeah, this feels right.’«
claire rousay
»a softer focus« (American Dreams, 2021)
»17 roles (all mapped out)« (Shelter Press, 2021)
claire rousay ist eine der wichtigsten Künstler*innen, die explizit Queerness im Rahmen zeitgenössischer Ambient-Musik erforschen. Die sich als nonbinär identifizierende Komponistin begann 2018 damit, einen bislang nicht abreißenden Strom von Alben und Werken über Bandcamp und einschlägige Indie-Labels zu veröffentlichen. Inzwischen ist sie zurecht so etwas wie ein kleiner Star der aktuellen Ambient-Szene. Sie lebt in San Antonio, Texas.
Im letzten Jahr hat die gelernte Schlagzeugerin ihr bislang ausgewogenstes Album veröffentlicht: »a softer focus« beginnt mit Field Recordings von einer klappernden Schreibmaschine und Störgeräuschen im Mikrofon; dann ziehen Drones und Streicher auf, werden jedoch immer wieder von rousays manipulierter Stimme oder scheinbar beiläufigen Unterhaltungen durchbrochen. Field Recordings markieren Erinnerungsfetzen, meist von Alltagssituationen und Gesprächen.
rousays letzte Veröffentlichung war ein 25-minütiges Stück mit dem Titel »17 roles (all mapped out)«, das mich vollends in seinen Bann gezogen hat. Es beginnt mit Geräuschen an einem Bahnübergang, geht dann in eine Spoken-Word-Passage über, für die rousay ihre Stimme mit Autotune bearbeitet hat, irgendwann schwellen Synthies an, im Hintergrund bellt ein Hund. Der Wind pfeift, Papier raschelt, Schritte entfernen sich. Von irgendwoher tönt ein Klavier.
Diese Stücke sind intelligent collagiert und zeugen von enormem kompositorischem Talent. Die Musik trägt meist etwas Persönliches, nahezu Intimes in sich; sie erinnert an assoziative Tagebucheinträge und rousays Twitter-Feed, in dem sie große und kleine Lebensthemen mit der Welt teilt. Soeben hat sie schon wieder ein neues Stück über Bandcamp veröffentlicht, eine 27-minütige Komposition namens »sometimes i feel like i have no friends«; Einsamkeit, emotionale Abhängigkeit und ihre Selbstwahrnehmung als Transfrau sind Themen, die rousay in ihren vielschichtigen Kompositionen auslotet.
Felisha Ledesma
»Sweet Hour« (enmossed x Psychic Liberation, 2021)
»Fringe« (Ecstatic Recordings, 2021)
Ursprünglich hatte die in Berlin lebende Soundtüftlerin Felisha Ledesma die beiden 20-minütigen Stücke ihres Debütalbums »Sweet Hour« für Livestreaming-Events in den ersten Lockdowns komponiert. Sie basieren auf den Klängen selbstgebauter Musikinstrumente, vor allem eines Software-Synthesizers namens »AMQR«.
Die Musik auf »Sweet Hour« ist von warm schimmernden, analogen Modular-Synthesizern gekennzeichnet, aber auch von der Verbindung von Drones mit Field Recordings. Die Stücke entwickeln sich langsam und inkrementell, doch wenn man tief genug zuhört, entfaltet sich eine immense Wirkung. »7AM« ergibt eine meditative, kontemplative Klangdecke, während »2AM« mit dem Aufbau von Spannungen durch Synthie-Arpeggios arbeitet, die nie zu einer Erlösung finden, sondern sich immer weiter dekonstruieren und schließlich ganz ausrinnen.
Ledesmas zweite Veröffentlichung »Fringe« erschien im September und enthält wieder zwei längere Stücke, von denen auf Anhieb vor allem »Golden Mirror« einen tiefen, bleibenden Eindruck hinterlässt. Eine geloopte Gitarrenphrase morpht im Laufe der knapp zehn Minuten zu einem warmen Gebilde, das sich wie eine musikalische Umarmung anfühlt. »Beamsplitters« beginnt mit einer Sprachnachricht einer Freundin, bevor sich Field Recordings, Synthie-Flächen und found sounds zu einer surrealen Collage verbinden, die in Klaviertönen endet.
Mit nur zwei Releases hat sich Ledesma schon als eine der spannendsten neuen Stimmen der Elektroakustik und der Ambient-Musik positioniert. Sie schreibt nicht bloß Musik, sie konstruiert emotionale Landschaften aus Klängen.
Danke fürs Lesen!
Folgt meiner Playlist:
© Stephan Kunze 2022