Zen Sounds 006: 15 Alben für 2021
Meine Jahresendliste mit den wichtigsten Alben, die mich durch 2021 begleitet haben
1. Floating Points, Pharoah Sanders & The London Symphony Orchestra – »Promises« (Luaka Bop, 2021)
Es ist Ende März, es ist noch kalt in Berlin. Seit Monaten gehen wir jeden Abend spazieren, einmal um den Block. Wir haben es durch den düsteren ersten Corona-Winter geschafft, doch die dritte Welle steht kurz bevor. Wir sind erschöpft und ausgelaugt. Da erscheint »Promises«, das langerwartete Album des britischen Electronica-Produzenten Floating Points mit dem inzwischen 80-jährigen Jazz-Saxofonisten Pharoah Sanders. Wochenlang läuft es in meinem Arbeitszimmer auf Dauerschleife. Ist das Ambient? Jazz? Fusion? Elektronische Musik? Und mal ganz ehrlich: Wen kümmert’s? Wichtig ist: Musik kann heilen. »Promises« ist der Beweis.
2. Armand Hammer & The Alchemist – »Haram« (Backwoodz Studioz, 2021)
3. Boldy James & The Alchemist – »Bo Jackson« (ALC Records, 2021)
Hip-Hop macht mir 2021 wieder Spaß, vor allem wegen The Alchemist. Der veröffentlicht in diesem Jahr gleich zwei hervorragende Alben: Seine Kollaboration mit dem kapitalismuskritischen New Yorker Underground-Duo Armand Hammer, bestehend aus billy woods und ELUCID, sowie eine Fortsetzung seiner Zusammenarbeit mit dem eiskalten Dealer-Rapper Boldy James aus Detroit. Auf beiden Werken zeigt sich Alchemist von seiner psychedelischen Seite und bietet den Rappern mit obskuren Rock- und Dub-Loops passende Leinwände für eindrucksvolle Sittengemälde aus der desolaten Post-Trump-US-Gesellschaft.
4. Navy Blue – »Navy’s Reprise« (Freedom Sounds, 2021)
5. Akai Solo & Navy Blue – »True Sky« (Break All Records, Freedom Sounds, 2021)
6. Wiki & Navy Blue – »Half God« (Wikset Enterprise, 2021)
Hip-Hop macht mir 2021 wieder Spaß, auch wegen Navy Blue. Der 24-jährige Skater, Rapper und Produzent hatte 2020 erst zwei gute Alben veröffentlicht, 2021 legt er mit seinem bislang stärksten Soloalbum »Navy’s Reprise« nach. Außerdem produziert er für zwei befreundete Rapper komplette Projekte: Akai Solo lässt mit »True Sky« abstrakten Eastcoast-Rap à la Cannibal Ox wieder aufleben, und Wiki wird auf »Half God« zum Chronisten der eigenen Jugend in Manhattan. Navy Blues an Madlib, Ka und Alchemist geschulte Lo-Fi-Loops verkörpern den Sound des neuen New York.
7. Bluestaeb – »Giseke« (Jakarta, 2021)
8. S. Fidelity – »Fidelity Radio Club« (Jakarta, 2021)
Auf Jakarta erscheinen in der ersten Jahreshälfte zwei Alben, die mich durch den Sommer begleiten. Bluestaeb und S. Fidelity haben sich endgültig vom instrumentalen Lo-Fi-Underground emanzipiert. Der in Paris lebende Bluestaeb flirtet mit Boogie, Disco und dem Alt-R&B der Post-Soulection-Schule, während der in Berlin beheimatete S. Fidelity mit Elementen aus Broken Beat, UK Jazz und 90s R&B spielt. Der Soundtrack zu unbeschwerten Momenten im Sommer 2021: Im Strandbad, im Mauerpark oder mit meiner kleinen Hündin auf der Terrasse.
9. Joy Orbison – »still slipping vol. 1« (XL, 2021)
Das »London-Ding« in einer Nußschale. Endlich hat Joy O ein Album gemacht, nein, ein »Mixtape«, wie er selbst sagt. Auf dem Cover seine Cousine, die ihn einst mit Drum’n’Bass bekannt gemacht hat; in den Skits hört man den Rest seiner Familie via Voicemail. Im Geiste stöbere ich im »Sounds Of The Universe« nach Platten, treibe mich am Skatepark in Brixton herum und fahre samstags zur Portobello Road, einfach nur der alten Zeiten wegen. Der minimale Lo-Fi-House von »better« ist der Soundtrack zu diesen Erinnerungen und einer der meistgehörten Songs des Jahres.
10. Skee Mask – »Pool« (Ilian Tape, 2021)
»Pool« ist ein Monstrum von einem Album: 18 Stücke, 105 Minuten Spielzeit. Doch Bryan Müller kann es sich erlauben. Sein letztes Werk »Compro« (2018) war der große Durchbruch, »Pool« ist die verspätete Siegerrunde des Münchners. Rollende Breakbeats kollidieren mit atmosphärischen Pads und tiefen Klanglandschaften; Müllers vielseitige elektronische Kompositionen leben von einer Dynamik und Ausgewogenheit, wie man sie hierzulande sonst nur bei Klassikern von Rhythm & Sound, GAS oder Surgeon findet. In einem Atemzug mit diesen Namen muss man Skee Mask spätestens jetzt erwähnen.
11. Moor Mother – »Black Encyclopedia Of The Air« (Anti-, 2021)
Camae Ayewa bezeichnet ihr neues Album »Black Encyclopedia Of The Air« in einem Pitchfork-Interview ironisch als ihr »Sellout-Album«. Doch Easy Listening geht anders: Die Avantgarde-Künstlerin aus Philadelphia rappt, sprechsingt, rezitiert, gurgelt und zischt beschwörende Verse, während ihr schwedischer Produzent Olof Melander spirituelles Brainfeeder-Geklapper, Jazz Fusion und »drumless« Lo-Fi-Hip-Hop channelt. Ein Album im Mixtape-Charakter, wie ein Soundtrack zu einem magischen Ritual, mit Moor Mother als musikalischer Schamanin.
12. Grouper – »Shade« (kranky, 2021)
Ihr 11. Soloalbum »Shade«, entstanden über einen Zeitraum von 15 Jahren, klingt, als habe [Liz] Harris es in einer alten Kirche mit einem einzigen Raummikrofon eingespielt. Mal begleitet sie sich selbst am Klavier, mal an der Akustikgitarre. Songs wie »Ode To The Blue« lassen mir die Armhaare zu Berge stehen und die Tränen in die Augen schießen. Wer noch nie etwas von Grouper gehört hat, steigt hier perfekt ein in den unverwechselbaren Kosmos einer der wichtigsten Künstlerinnen und Stimmen unserer Ära.
13. Eli Keszler – »Icons« (LuckyMe, 2021)
»Icons« nahm der Avantgarde-Komponist Eli Keszler in seiner Wohnung in Manhattan auf, inmitten der 2020er Lockdowns, als die Stadt, die sonst niemals schläft, auf einmal still geworden war. Die unscheinbaren Nebengeräusche des Alltags in der Geisterstadt rückten ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit, und Keszler begann, sie als Musik zu betrachten, sie aufzunehmen und zu samplen, mit elektroakustischen Mitteln zu imitieren und zu arrangieren. »Icons« spiegelt diese unheimliche, pandemische Atmosphäre und erschafft eine seltsame, magische Stimmung, wie es nur ganz große Alben tun: Miles Davis’ »In A Silent Way« kommt mir in den Sinn.
Re-Issue Corner
14. Seefeel – »Rupt And Flex (1994-96)« (Warp, 2021)
Seefeel waren eine experimentelle Band aus London, die mit Shoegaze und Postrock startete, sich Mitte der 1990er Jahre aber neu erfand. Für ihr zweites Album »Succour« (1995) unterschrieben sie bei Warp, den Nachfolger »(CH-VOX)« (1996) veröffentlichten sie bei Aphex Twins Rephlex-Label. Ihre analogen Instrumente nutzten sie nur noch als Quellen für seltsame Sounds und metallische Drones, dazu programmierten sie abstrakte Beats, die in Techno und Industrial wurzelten. Minimalistische Klangcollagen wie »Utreat« oder der 12-minütige Autechre-Remix von »Spangle« liefen bei mir in diesem Jahr auf Dauerschleife.
15. V.A. – »Ritmo Fantasia: Balearic Spanish Synth-Pop, Boogie and House (1982-92)« (Soundway, 2021)
»Balearic« bezieht sich auf einen mythenumwobenen Sound, der Mitte der 1980er Jahre von lokalen DJs auf Ibiza begründet und von britischen DJs global exportiert wurde: Melancholischer Mittelmeer-Pop gemischt mit frühem Deep House und kosmischem Ambient, versehen mit reichlich New-Age-Flöten, spanischen Gitarren und Smooth-Jazz-Saxofonen. Wenig Fokus lag seither auf jenem Teil des balearischen Repertoires, das auf den Inseln und dem spanischen Festland produziert wurde. Nun hat der in Berlin lebende venezolanische DJ Trujillo diese Compilation mit 21 spanischsprachigen Balearic-Stücken aus der Frühphase des »Genres« zusammengestellt. Musik wie ein ewiger Sonnenuntergang am »Café del Mar«.
Danke fürs Lesen! Wir hören uns 2022.
Folgt meiner Playlist:
© Stephan Kunze 2021