Zen Sounds 005: »Each sound is free to be itself«
Mit Platten von Eli Keszler, Leif, Priori, Embryo, Overmono, Autechre und DJ Muggs
Als ich vor einigen Jahren begann, die Texte des Komponisten John Cage zu lesen, brach recht bald das intellektuelle Kartenhaus des Musikjournalismus hinter mir zusammen.
Zu Beginn der 1950er Jahre wandte sich Cage, der sich bis dahin vor allem mit der indischen Vedanta-Philosophie beschäftigt hatte, dem chinesischen Taoismus und dem Zen-Buddhismus zu. Seine Lehrer waren D.T. Suzuki und Alan Watts, die das alte fernöstliche Wissen zu dieser Zeit langsam im Westen bekannt machten.
Die Kunstkritikerin Kay Larson beschreibt in ihrem Buch »Where The Heart Beats: John Cage, Zen Buddhism and the Inner Life of Artists«, wie ihm die Lehren von Suzuki und Watts dabei halfen, eine radikal neue Art der Komposition zu erfinden. Cage integrierte Feldaufnahmen in sein Werk und nutzte Alltagsgegenstände wie Instrumente, auch komponierte er gern mit dem I Ging, dem chinesischen »Buch der Wandlungen«. Später generierte er mit Algorithmen zufällige Tonfolgen und schrieb sein berühmtestes Stück »4’33«, das als einzige Anweisung an die Pianistin das Wort »Tacet« (lat. »sie schweigt«) enthält. Bei jeder Aufführung wird das Husten, Flüstern oder Räuspern des Publikums ein Teil des Werks.
Cage fand, dass man Klänge nicht diskriminieren solle; immerhin sei jeder Klang flüchtig wie ein Gedanke und im nächsten Moment schon verschwunden. Nur unser Ego hänge unnötige Bewertungen an Klänge; der Klang einer Violine sei jedoch nicht automatisch »besser« als der eines Presslufthammers.
»Each sound is free to be itself. Nothing can cling to it: no interpretation, no ideas; no anger, no hurt; no ‘masterpiece’ judgment, no ‘not-masterpiece’ judgment.«
Dank meiner eigenen Zen-Praxis dämmerte mir allmählich, dass Cage recht hatte. Doch wir Musikjournalist*innen taten den ganzen Tag nichts anderes als Klänge und Werke bewerten; darauf beruhte unser komplettes berufliches Selbstverständnis. Jahrelang konnte ich keinen einzigen Satz mehr über Musik schreiben.
Mit »Zen Sounds« habe ich ins Schreiben über Musik zurückgefunden – doch etwas hat sich nachhaltig verändert, sowohl an meinen Hörgewohnheiten, als auch an meinen Analysen. Ich nehme meine Interpretationen und Bewertungen nicht mehr sonderlich ernst und halte sie auch nicht für allzu wichtig. Ich hoffe nur, dass meine Leser*innen in meinen launigen Empfehlungen den einen oder anderen inspirierenden Hinweis finden und sich beim Hören eine achtsame Offenheit bewahren.
Nicht mehr, und nicht weniger.
Album der Ausgabe
Eli Keszler – »Icons+« (LuckyMe, 2021)
Eines der interessantesten Alben des Jahres, »Icons« vom New Yorker Avantgarde-Komponisten Eli Keszler, wurde im November noch einmal mit zwei Bonus-Tracks als Deluxe-Version wiederveröffentlicht. Keszler, von Haus aus Drummer und Perkussionist, war bislang vor allem für seine Installationen bekannt und arbeitete in der Vergangenheit wiederholt mit Daniel Lopatin (Oneohtrix Point Never) zusammen. »Icons«, sein bisher zugänglichstes Soloalbum, erschafft eine seltsame, magische Stimmung, wie es nur ganz große Alben tun: Miles Davis’ »In A Silent Way« kommt mir in den Sinn, oder auch Brian Enos »Ambient 4: On Land«, das allerdings im Gegensatz zu »Icons« komplett ohne Drums auskommt.
Das Album nahm Keszler in seiner Wohnung in Manhattan auf, inmitten der 2020er Lockdowns, als die Stadt, die sonst niemals schläft, auf einmal still geworden war. Die unscheinbaren Nebengeräusche des Alltags in der Geisterstadt rückten ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit, und Keszler begann, sie als Musik zu betrachten, sie aufzunehmen und zu samplen, mit elektroakustischen Mitteln zu imitieren und zu arrangieren. Immer wieder scheint Keszlers virtuoses Spiel durch, etwa in dem frühen Höhepunkt »The Accident«, wo ein live gespieltes Drum’n’Bass-Pattern auf melancholische Rhodes-Akkorde und allerlei merkwürdige Geräuschquellen trifft. »Icons« spiegelt diese unheimliche, pandemische Atmosphäre, die beispielsweise auch der Skateboarding-Kurzfilm »Kill Bill« von Naquan Rollings so perfekt einfing.
Embryo – »Auf, Auf« (Madlib Invazion, 2021)
Ich sah die aktuellste Inkarnation der Krautrock-Band Embryo vor einigen Jahren live – mit Marja, der Tochter des legendären Bandleaders Christian Burchard, am E-Klavier, Jan Weissenfeldt an der Gitarre und Johannes Schleiermacher am Saxofon. Das Konzert fand im Klunkerkranich statt, jenem Neuköllner Dachgarten, in dem man die schönsten Sonnenuntergänge Berlins beobachten kann. Embryo existierten zu diesem Zeitpunkt schon fast ein halbes Jahrhundert; ihre bekanntesten Alben erschienen zu Beginn der 1970er Jahre auf Labels wie Ohr oder Brain.
Embryo haben nie aufgehört, sondern immer weitergemacht; das Kollektiv mit wechselnden Mitgliedern ist jahrzehntelang im Bus durch alle möglichen Kontinente gereist, hat mit lokalen Musiker*innen gespielt, sein Repertoire erweitert. Dass das neue Album, das erste seit Burchards Tod im Jahr 2018, beim Label des Hip-Hop-Produzenten und Krautrock-Fans Madlib erscheint, ist die Spätfolge einer gemeinsamen Jamsession in München im Jahr 2010. »Auf, Auf« ist ein typisches Embryo-Album, das die Bandtradition schlüssig fortschreibt: Psychedelischer Jazzrock bildet die Basis, dazu kommen harmonische und rhythmische Einflüsse aus Nordafrika und dem nahen Osten. Marja hat das Zepter in die Hand genommen und verfolgt bei aller musikalischer Komplexität eine vergleichsweise geradlinige Vision, die dieser Inkarnation von Embryo sehr gut zu Gesicht steht.
Leif – »9 Airs« (AD 93, 2021)
Leif Knowles stammt aus Wales, lebt in Bristol und produziert seit vielen Jahren tendenziell melodiöse, leise Musik zwischen Techno, House und Ambient. Auch sein neues Album »9 Airs« bewegt sich in diesem Spannungsfeld, steckt jedoch auch voller traditioneller Instrumente wie Harfe und Hackbrett, Flöte und präpariertem Klavier. Durch die Verbindung mit subtilen elektronischen Texturen und spärlichen, programmierten Drums entsteht eine pastorale Musik, die Naturphänomene von Leifs Heimat, der rauen britischen Westküste, zu imitieren scheint und dabei eine magische, anrufende Kraft entwickelt. Irgendwo zwischen den frühen Four-Tet-Platten und den sanfteren Tönen von Flying Lotus (ca. »Until The Quiet Comes«), aber mit einem speziell walisischen Hinterland-Vibe. Kann mich nicht satt dran hören.
Priori – »Your Own Power« (Naff, 2021)
Wenn wir in einigen Jahren auf heutige Musik zurückschauen, wird man zur Beschreibung vieler Platten sicher die Kategorie des introspektiven »Pandemie-Albums« bemühen. Auch der kanadische Techno- und House-Produzent Priori hat Mitte 2020 ein solches produziert: Mit modularen Synthesizer-Klängen und komplexen, gebrochenen Beats, mit geraden Bassdrums, reichlich Dub-Echo und Ambient-Flächen. Vor einigen Ausgaben habe ich schon die Healion-EP empfohlen, die Priori gemeinsam mit seinem Kollegen Ex-Terrestrial produziert hat; »Your Own Power« ist ein weiteres perfektes Atmo-Album für ausgiebige Spaziergänge durch die Großstadt, am frühen Abend, wenn die Lichter der Wohntürme angehen und man sich draußen wegen der zugigen Kälte die Kapuze über die Mütze zieht. Der Winter in Montréal kann brutal sein.
Overmono – »Diamond Cut / Bby« (XL, 2021)
Overmono sind zwei Brüder aus London, die zwar schon viele Jahre unabhängig voneinander und zusammen Musik machen, aber in den letzten zwölf Monaten einen unfassbaren Lauf hingelegt haben. Los ging es mit ihrer bisher vielleicht besten EP, es folgte die erste 12-Inch auf XL, eine Doppel-A-Seite auf Poly Kicks, ein Fabric-Mix, ein BBC Essential Mix, und nun, um ihr Gewinnerjahr abzuschließen, noch diese beiden minimalistischen UK-Garage-Tunes mit hochgepitchten R&B-Vocals und (im Falle der B-Seite) himmlischen Pads, noch einmal auf XL. Tief verwurzelt im britischen Hardcore Continuum, dabei clubtauglich, aber auch für Kopfhörer und Autoradios gemacht: Die Art von Musik, von der ich nie genug bekommen kann.
Reissue Corner
Autechre – »Chiastic Slide« (Warp, 1997/2021)
Nachdem Autechre aus Manchester ab Anfang der 1990er Jahre zunächst eine für die Zeit recht typische Mischung aus Ambient House, Detroit Electro und Warp-IDM produziert hatten, verschob sich ihr Sound schon auf ihrem dritten Album »Tri Repetae« (1995) hin zu einer ureigenen Vision, einer Art abstraktem, algorithmischem Maschinen-Funk. Seitdem sind die Platten des Duos sukzessive immer noch ein Stück lärmiger, vertrackter und unhörbarer geworden, doch Autechre unterbrechen diese Entwicklung immer wieder durch Ambient-Alben von spröder Schönheit wie »Oversteps« (2010) oder »SIGN«, mein Lieblingsalbum des Jahres 2020.
»Chiastic Slide«, ihr viertes Album von 1997, definierte den »neuen« Autechre-Sound nah an der Perfektion, klingt jedoch noch lange nicht so chaotisch wie manche ihrer späteren Alben. Die Maschinen entwickeln hier bereits ein Eigenleben, künstliche Intelligenzen kreieren eine mechanische Form von Jazz aus Beats, Statik und Störgeräuschen. Auf diesem Album basieren die in den Folgejahren entstehenden Elektronik-Subgenres Glitch und Clicks’n’Cuts zu ganz wesentlichen Teilen. Sean Booth und Rob Brown machen das häufiger: Genres erfinden und dann sofort weiterziehen. »Chiastic Slide« aber steht bis heute da wie ein kalter Monolith, stets bereit, von einer neuen Generation entdeckt und bewundert zu werden. Es ist kein Wunder, dass diese Platte immer wieder neu aufgelegt wird.
Bonus Beats
DJ Muggs – »Winter 2« (Soul Assassins, 2021)
DJ Muggs, heute 53-jähriger Pionier von der legendären Hip-Hop-Band Cypress Hill, hat in den letzten drei, vier Jahren den psychedelisch-atmosphärischen »drumless« Style seines ehemaligen Schülers The Alchemist adaptiert und zu seinem eigenen gemacht (auch indem er die Drums teilweise wieder eingeführt hat); zudem hat er dessen Konzept übernommen, mit Rappern stets auf Albumlänge zu kooperieren. 2021 erschienen nach diesem Schema vier großartige, kompromisslose Underground-Rap-Alben: Mit Rome Streetz, Flee Lord, Hologram und Crimeapple. Sie lohnen sich ausnahmslos.
»Winter 2« ist eine Ausnahme vom Konzept, eine Art Mixtape mit verschiedenen MCs. Zu den Höhepunkten zählen die beiden Auftritte des unerreichten Roc Marciano, aber auch der junge MC RLX aus Lawrence, Massachusetts, drückt dem Album mit vier hungrigen Parts seinen Stempel auf. Der eigentliche Star des Albums sind jedoch nicht die Rapper, sondern die Beats: Düstere Streicher, leiernde Loops, trockene Snares – ein zeitgemäßes, an Lo-Fi-Ästhetik geschultes Update von Muggs’ klassischem »Temples of Boom«-Sound. »Winter 2« wird mich durch die vierte Welle begleiten wie Daunenjacke und FFP2-Maske.
Danke fürs Lesen!
Folgt meiner Playlist:
© 2021 Stephan Kunze