Zen Sounds 003: »Freiräume der Einsamkeit und des Schweigens schaffen«
Mit Platten von Relaxer, Portico Quartet, Alva Noto, Goodnight, Logic1000, George T & Johnny Aux, Kabuki, Serafina Steer & John T. Gast, Mucho Sueño und Wiki
Willkommen zur dritten Ausgabe von »Zen Sounds«.
Vielleicht habt ihr es schon gemerkt: Seit der letzten Ausgabe gibt es hier im Newsletter mit »Bonus Beats« auch einen Ort für meine älteste musikalische Liebe, den Hip-Hop. Eine Empfehlung pro Ausgabe reicht. Auch wenn ich immer noch sehr gern Rapmusik höre, bevorzuge ich inzwischen meist instrumentale Musik.
Vielleicht liegt es an der generellen Skepsis gegenüber Sprache und Worten, die in mir wächst, seit ich mit der Zen-Praxis begonnen habe. Im Zen-Buddhismus sieht man Sprache als Instrument der Abtrennung; sie trennt uns von der menschlichen Erfahrung. Das Wort »Meer« ist nicht das Meer selbst und auch nicht die Erfahrung, die wir machen, wenn wir ins Meer eintauchen. Sprache hat ihre zentrale Funktion in unserem Leben, aber sie kann sinnliche Erfahrung nicht ersetzen. Musik ist in erster Linie eine solche sinnliche Erfahrung; manchmal fügt Sprache eine wichtige Ebene hinzu, oft jedoch banalisiert sie die Musik.
Doch es gibt noch ein anderes, gesellschaftliches Argument, das mich bei Musik immer häufiger auf Gesang und Text verzichten lässt. Im Überwachungskapitalismus sehen wir uns mit einem ständigen Kommunikationszwang konfrontiert. Der Verzicht auf Worte und Sprache kann insoweit eine Form des Widerstandes darstellen. Der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han nennt das Schweigen die effektivste Praxis des Aufbegehrens gegen die neoliberale »Psychopolitik«. Damit bezieht er sich auf Gilles Deleuze, der schon 1995 schrieb:
»Die Schwierigkeit ist heute nicht mehr, dass wir unsere Meinung nicht frei äußern dürfen, sondern Freiräume der Einsamkeit und des Schweigens zu schaffen, in denen wir etwas zu sagen finden.«
Album der Ausgabe
Relaxer – »Concealer« (Planet Mu, 2021)
»Concealer« klingt anders als alles, was Daniel Martin-McCormick, der sich als Produzent früher einmal Ital nannte, bisher veröffentlicht hat. Mit einem Bein steht sein neues Album als Relaxer in den dunkelsten Clubs von New York, mit dem anderen in der Kunstgalerie. Stilistisch zwischen Ambient Techno und Microhouse angesiedelt, wollen diese zehn Stücke trotz ihrer klanglichen Referenzen auf die 2000er Jahre keinesfalls als Retro-Musik verstanden werden. Es sind postmoderne Collagen aus digital prozessiertem Material, manchmal euphorisch pulsierend (»Mello«), dann wieder tiefenentspannt treibend (»Narcissus By The Pool«) oder nervös zuckend (»Concealer«) – immer aber so faszinierend, dass man den Blick kaum von ihnen abwenden kann. Ein Grower-Album, und was für eins.
Portico Quartet – »Monument« (Gondwana, 2021)
Nach ihrem Ambient-Album »Terrain« vor sechs Monaten ist »Monument« nun wieder ein eher klassisches Album der Briten, mit der üblichen Mischung aus Jazz-Intensität, elektronischen Texturen und Postrock-Dynamik. Duncan Bellamys treibendes, repetitives Schlagzeug bietet das Fundament für die schwärmerischen Melodiebögen von Jack Wyllies präpariertem Saxofon. Synthie-Wolken und Cello-Tupfer ergänzen das Klangbild, und natürlich kommt auch ihr magisch-metallisches Markenzeichen, der Hang, zum Einsatz. Portico Quartet meistern auf diesem Album ihren charakteristischen Sound; filmischer Ambient-Jazz für dunkle Herbsttage.
Alva Noto – »HYbr:ID I« (Noton, 2021)
Sein neues Album schrieb der arrivierte Chemnitzer Komponist und Sound-Designer Carsten Nicolai alias Alva Noto ursprünglich 2019 für eine Choreographie des Berliner Staatsballetts. Diese perfekt modellierten Klangskulpturen aus Sub-Bässen, weißem Rauschen, Drones und Beats sollen laut ihren Titeln astrophysische Phänomene wie Hadronen, schwarze Löcher und Partikelbeschleuniger beschreiben. Tatsächlich scheinen sie aus einer weit entfernten Galaxie zu stammen. Sie stehen für sich, ohne uns etwas sagen zu wollen, und ziehen uns doch vollends in ihren Bann. Wir hören gebannt zu, Raum und Zeit verlieren sich, das Konzept geht auf.
Goodnight – »Tangent« (GASS, 2021)
Dem Geschwisterduo Goodnight, das sich in seinen Produktionen sonst zwischen Shoegaze und Dreampop bewegt, ist mit »Tangent« ein hypnotischer Slow-House-Hit gelungen, der nach einigen Durchgängen süchtig macht. Dabei besteht das unspektakuläre Rezept aus nur wenigen Elementen: Verträumte Pads auf einem stoischen 110-BPM-4/4-Beat, dazu eine psychedelische Acid-Line und die ätherischen Vocals von Stephanie Shiu. Mehr braucht es manchmal eben nicht.
Logic1000 – »In The Sweetness Of You« (Therapy, 2021)
In Samantha Poulters minimalistischen House- und Garage-Tunes passen alle Elemente stets perfekt zusammen: Die klappernden Drums, die geschmackvollen R&B-Vocals und die kofferraumrüttelnden Basslines. Ihre letzte 12-Inch »Safe In Your Arms / Your Love« hatte die BPM heruntergeschraubt und dafür auf feinere Zwischentöne gesetzt; die neue 5-Track-EP der in Berlin lebenden Australierin setzt diesen begrüßenswerten Trend fort, wobei der Schwerpunkt nicht so sehr auf balearischem Spätsommer-House und dafür mehr auf herbstlichem UKF/UKG irgendwo zwischen Roska und Geeneus liegt. Piratensender Power Play.
George T & Johnny Aux – »Making Excuses For You« (Optimo, 2021)
Eilig haben es George Thomson und Quinn Whalley nicht. Sie lernten sich vor vielen Jahren im Londoner Nachtleben kennen, arbeiten seit einer zufälligen Wiederbegegnung im Jahr 2015 gemeinsam an Musik, und diese EP ist das erste musikalische Lebenszeichen des Duos. Der Höhepunkt ist »Amsterdam«, ein deeper, analoger Dub-Roller mit Post-Punk-Note, der auch auf On-U Sound hätte erscheinen können. Die beiden Veteranen können allerdings auch beatlosen Drone-Ambient (»Ingredients«) und perkussiven Minimal Techno (»Back«). Dies ist Musik, die Andrew Weatherall in seiner »Music Is Not For Everyone«-Radiosendung gespielt hätte. Ein größeres Kompliment fällt mir gerade nicht ein.
Kabuki – »The Crucible (Lilac Phase)« (When Spirits Meet, 2021)
Anfang des Jahres startete Kabuki ein neues Projekt: Jeweils für einen Monat reduzierte er sich bewusst auf ein bestimmtes Set an Instrumenten und Plug-Ins, dann streamte er mehrfach wöchentlich aus seinem Studio per Twitch. So entstanden pro »Phase« jeweils zwei Songs, die auf ähnlichen Klangpaletten basierten. Inzwischen ist »The Crucible« mit der »Lilac Phase« schon fast auf der Zielgeraden angekommen: Warmer, analoger Instrumental-Hip-Hop mit Jazz-Einfluss und Ambient-Sensibilität. Als hätten Pete Rock und Floating Points mit Boards of Canada in den schottischen Highlands gejammt. Das komplette Album mit allen sechs »Phasen« erscheint im Dezember und schließt an Kabukis »Meditations« (2014) an.
Serafina Steer / John T. Gast – »Garden Of Love / Water Carrier« (5 Gate Temple, 2021)
Dania Shihab vom Tape-Label Paralaxe Editions schreibt im hervorragenden Newsletter ihres Ehemanns Shawn Reynaldo (»First Floor«) eine feste Gastkolumne mit dem Titel »My Wife Has Better Taste Than I Do«. Ohne ihren Hinweis hätte ich diese Kollaboration der britischen Harfinistin Serafina Steer mit dem geheimnisvollen Produzenten John T. Gast, die bereits im April 2021 erschienen ist, sicher verschlafen. Was doch sehr schade wäre, denn diese Ambient-EP begleitet mich gerade durch den grauen November, wobei »Garden Of Love« mit gezupfter Harfe auf sphärischen Synthies daherkommt, während »Water Carrier« durch dumpfe Trommeln eine bedrohlich-düstere Atmosphäre transportiert.
Mucho Sueño – »Relacional« (All Centre, 2021)
»Relacional«, das Titelstück der ersten EP des chilenischen Produzenten Mucho Sueño, hat so ziemlich alles, was ich an elektronischer Musik liebe: Analoge Synthie-Wärme, interessante Drum-Patterns, weirde Geräusche, ein ausgefuchstes Sound-Design. Ganz sicher hat Mucho Sueño die Warp-IDM der 1990er Jahre studiert und die eine oder andere Aphex-Twin-Platte inhaliert. Seine Musik trägt nostalgische Züge, kombiniert sie jedoch mit einer absolut zeitgemäßen und eigenständigen Ästhetik. Als ich diese EP entdeckte, hörte ich sie stundenlang auf Schleife – ein sicheres Zeichen für eine Platte, die unbedingt in diesen Newsletter gehört.
Bonus Beats
Wiki – »Half God« (Wikset Enterprises, 2021)
Das beste Rap-Album der letzten Monate ist eine klassische Coming-of-Age-Geschichte, die in Manhattan spielt. Mehr Hip-Hop-Klischee geht kaum, und doch schafft es Patrick »Wiki« Morales, dem altbekannten Format neuen Charme zu injizieren. So unmittelbar emotional wie auf Navy Blues souligen Lo-Fi-Loops habe ich den 28-jährigen Rapper noch nicht gehört, obwohl ich seine Musik seit den Ratking-Tagen verfolge.
Schon das vor einigen Monaten erschienene Mini-Album »Telephonebooth«, eine Kollaboration mit dem experimentellen Produzenten Nah aus Antwerpen, war eine interessante künstlerische Wendung, doch »Half God« ist zum krönenden Statement von Wikis bisheriger Karriere geraten. Auch für Navy Blue, der in diesem Jahr bereits ein exzellentes Soloalbum (»Navy’s Reprise«) veröffentlicht und ein exzellentes Album für Akai Solo (»True Sky«) produziert hat, ist dieses Projekt eine einzige Siegerrunde. So lange es diese Art von Hip-Hop gibt, bleibe ich Fan.
Danke fürs Lesen!
Folgt meiner Playlist:
© 2021 Stephan Kunze