Zen Sounds 002: »Listen until you understand, get with it, and go with it«
Mit Platten von Grouper, Lone, Beats Unlimited, Anthony Naples, Motoko & Myers, Om Unit, Mount Kimbie, Laurie Spiegel, Olof Dreijer und The Alchemist
Willkommen zur zweiten Ausgabe von »Zen Sounds«.
Ich bin sehr dankbar über die vielen positiven Nachrichten, die mich erreicht haben, seit ich vor zwei Wochen die erste Ausgabe dieses Newsletters veröffentlicht habe.
Seitdem habe ich viel darüber nachgedacht, was die Musik in »Zen Sounds« ausmacht. Für mich ist es Musik, die sich selbst genügt; Musik, die nuancierter Ausdruck vielschichtiger Emotionen ist; Musik, die nichts anderes sein und darstellen will als unmittelbarer Klang und vollkomme Präsenz.
Tendenziell ist instrumentale Musik eher dazu geeignet, diese Kriterien zu erfüllen; wenn die menschliche Stimme jedoch primär als Instrument eingesetzt wird, kann sie in diesem Kontext auch funktionieren – siehe das Album dieser Ausgabe.
Der Zen-Gelehrte Alan Watts schrieb über diese Art von Musik 1972 in seiner Autobiografie »In My Own Way«:
»Simply listen, then, to the rain. Listen to what Buddhists call its ‘suchness’ – its tathata or da-da-da. Like all classical music, it means nothing except itself, for only inferior music mimics other sounds or is about anything other than music. There is no ‘message’ in a Bach fugue. (…)
Trying to catch the meaning of the universe in terms of some religious, philosophical, or moral system is really like asking Bach or Ali Akbar [Khan] to explain their music in words. They can explain it only by continuing to play, and you must listen until you understand, get with it, and go with it – and the same is true of the music of the vibrations.«
Feedback, Anregungen und Hinweise gern an zensounds [at] posteo [dot] de.
Album der Ausgabe
Grouper – »Shade« (kranky, 2021)
Über den Moment der Veröffentlichung eines neuen Albums sagte die DIY-Musikerin Liz Harris aus Oregon einmal in einem Interview:
»I often picture releasing an album as trying to secretly sink a heavy object in a lake – find a quiet corner, gently slip it under the surface, watch the ripples for a moment, and steal away.«
Ihr 11. Soloalbum »Shade«, entstanden über einen Zeitraum von 15 Jahren, hat Harris wieder nahezu heimlich veröffentlicht. Musik ist für sie eine intime Angelegenheit. Die Worte, die sie mit geisterhafter Stimme haucht, versteht man kaum. Es könnte um Themen wie Depression, Verlust oder Schmerz gehen. Sicher weiß man es nicht. Songs wie »Ode To The Blue« lassen mir jedenfalls die Armhaare zu Berge stehen und die Tränen in die Augen schießen.
»Shade« klingt, als habe Harris es in einer alten Kirche mit einem einzigen Raummikrofon eingespielt. Mal begleitet sie sich selbst am Klavier, mal an der Akustikgitarre. Das Album vereint die Soundkonzepte all ihrer vergangenen Alben zu einer Art Karrierewerkschau mit ausschließlich neuen Songs. Wer noch nie etwas von Grouper gehört hat, steigt hier perfekt ein in den unverwechselbaren Kosmos einer der wichtigsten Künstlerinnen und Stimmen unserer Ära.
Lone – »Always Inside Your Head« (Greco-Roman, 2021)
Für Lones erstes Album seit fünf Jahren sollen William Orbit, Cocteau Twins und My Bloody Valentine als Inspirationen gedient haben. Ich höre daneben aber auch Future Sound Of London und alles andere, was in den 1990er Jahren nachts auf MTVs »Chill Out Zone« lief und in David Toops »Ocean Of Sound« so extensiv beschrieben wurde, inklusive Enigma-Panflöten, Ambient-House-Beats und der ätherischen Stimme von Morgane Diet, die auf mehreren Songs zum Einsatz kommt. Genau die richtige Art von Kopfhörermusik, in der ich mich in diesem Herbst herrlich verlieren kann.
Beats Unlimited – »s/t« (Diskotopia, 2021)
Glenn Astro hat vor Ewigkeiten mal Musik gemacht, die man damals als Lo-Fi-House bezeichnete, ist aber längst in eklektischere Gefilde weitergezogen. Doc Sleep stammt aus San Francisco, lebt aber wie Astro inzwischen in Berlin; sie ist Mitbetreiberin des Jacktone-Labels und produziert experimentellen Techno. Zusammen veröffentlichte das Duo schon im Juli dieses Mini-Album, auf dem es eine hypnotische Welt aus kristallinen Synthie-Flächen, oszillierenden Dub-Effekten und knusprigen Microhouse-Beats erschafft. Für mich eine der schönsten Entdeckungen der letzten Monate – vollkommen unmodische, mutige und eigenständige Musik.
Im September ist zusätzlich noch eine Bonus-7-Inch erschienen: Zwei skeletale, minimalistische Dub-Versionen, die das Albummaterial perfekt ergänzen.
Anthony Naples – »Chameleon« (ANS, 2021)
Eigentlich eher für funktionale Club-Tracks bekannt, arbeitete der New Yorker House-Produzent Anthony Naples während der Lockdowns an neuer Musik, plötzlich mal ganz ohne den Dancefloor im Sinn. Indem er aus seiner Komfortzone ausbrach, schrieb Naples jedoch kurzerhand das beste Album seiner bisherigen Karriere. Eingespielt auf analogen Drums, Bass, Gitarre und Synthesizer, weist »Chameleon« Elemente von Trip-Hop, Ambient, Post-Punk und kosmischem Krautrock auf. Dank ihrer dynamischen Kontrapunkte transportieren die teilweise skizzenhaften Stücke eine Atmosphäre aufmerksamer, interessierter Wachheit. Von hier an ist der Horizont ganz weit offen.
Motoko & Myers – »Colocate« (Soda Gong, 2021)
Nach all den Jahren des professionellen Musikhörens liebe ich es, wenn mich eine Platte noch ehrlich überrascht. Auftritt Motoko & Myers, ein Producer-Duo aus der Bay Area, das so etwas wie, nun ja, minimalistisch-experimentellen Ambient-City-Pop produziert. Auf »Colocate«, ihrem zweiten Album nach dreijähriger Pause, treffen Field Recordings von Freiburger Kirchenglocken auf New-Age-Instrumentierung, schimmernde Synthies und improvisierte, nicht-quantisierte Drum-Machine-Beats. Das Ergebnis klingt eigenartig unverbraucht.
Om Unit – »Flux« (Om Unit, 2021)
Auf seiner dritten selbstveröffentlichten EP nach »Self« (2017) und »Violet« (2019) erforscht Om Unit aus Bristol das spannende Spektrum um die 150 bpm, mit Elementen aus Jungle und Dubstep, Techno und UKG. Der große Hit ist »Ramp« – ein düsterer, treibender Tune mit klappernden Garage-Drums, wie eine Deep-Medi-Maxi auf +8. Aber auch die vorwärts stolpernden Beats von »Angles«, der kalte Electro-Vibe von »Rubberneck« und der klassische Dub-Techno-Nebel von »Autumn Shadows« ziehen mich unmittelbar in ihren Bann. Starkes Statement von einem der stabilsten UK-Producer der letzten zehn Jahre; unfassbares Sound-Design auch.
Mount Kimbie – »Black Stone / Blue Liquid« (Warp, 2021)
Diese beiden Stücke stammen aus den Sessions für das letzte Mount-Kimbie-Album »Love What Survives« (2017). Am Ende wurden sie aus dem Tracklisting gestrichen und erst jetzt, zum vierjährigen Jubiläum des Albums, wieder ausgegraben. Mit ihren exotischen Ambient-Texturen und motorischen Beats klingen beide Songs, als hätte das britische Duo in seiner »Crooks & Lovers«-Phase mit Jon Hassell und Jaki Liebezeit in einer Tropfsteinhöhle gejammt. Definitiv keine B-Ware, und ein komplett neues Album ist angeblich auch bereits fast fertig.
Re-Issue Corner
Laurie Spiegel / Olof Dreijer – »Melodies Record Club #002: Ben UFO selects« (Melodies International, 2021)
Mit der ersten, von Four Tet kuratierten Ausgabe startete vor einigen Monaten die neue »Melodies Record Club«-Reihe, die stilistisch kaum besser zu »Zen Sounds« passen könnte: Geschmackssichere DJs stellen experimentelle Musik vor, die nicht für den Dancefloor produziert wurde, dort aber hervorragend funktioniert.
Die A-Seite gehört der amerikanischen Avantgarde-Komponistin Laurie Spiegel, die schon in den 1970er Jahren mit computergenerierter Musik experimentierte. Das lakonisch betitelte »Drums«, ursprünglich auf ihrem Album »The Expanding Universe« (1980) enthalten, ist eine Studie in afrikanischer und indischer Rhythmik, eine Art minimalistischer Proto-Techno im Geiste der Berliner Schule.
Die eigentliche Sensation befindet sich jedoch, wie so oft, auf der B-Seite: Der schwedische Produzent Olof Dreijer (The Knife) schrieb »Echoes From Mamori« im Jahr 2009 als Auftragsarbeit für eine Ausstellung des befreundeten Künstlers Adnan Yildiz. Das Stück aus gesampleten Field Recordings von Fröschen und Vögeln entwickelt sich im Verlauf seiner knapp 13 Minuten zu einem ekstatischen Balearic-House-Tune, irgendwo zwischen kanadischer Riviera und Salon des Amateurs.
Bonus Beats
The Alchemist – »This Thing Of Ours Vol. 2« (ALC, 2021)
Seine »drumless« Loops inspirierten eine ganze Generation junger Künstler*innen. Mit ihnen zelebriert der legendäre Hip-Hop-Produzent The Alchemist nun den Schulterschluss: Auf der ersten, im Frühjahr erschienen »This Thing Of Ours«-EP tauchten Rapper wie Earl Sweatshirt, Navy Blue oder Pink Siifu auf, die den experimentellen Rap-Underground der letzten Jahre prägten.
Auf dem Nachfolger sind es Talente wie Mavi, MIKE oder Vince Staples, denen Alchemist mit atmosphärischen, roh geschnittenen Samples maßgeschneiderte Leinwände bietet. Auf dem psychedelischen »Flying Spirit« läuft die komplette Detroiter Bruiser Brigade um Danny Brown zu Hochform auf – Veteran Fat Ray berichtet in seinem denkwürdigen Part davon, wie er einst auf dem Sofa zu MF DOOMs »Accordion«-Beat erste Reime schrieb. Einziger Wermutstropfen: Junge, talentierte Rapperinnen scheint The Alchemist leider keine zu kennen.
Vielleicht ja dann auf »Vol. 3«.
Vielen Dank fürs Lesen!
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© 2021 Stephan Kunze