Zen Sounds 001: »Our focus is the brain, not the dancefloor«
Mit Platten von Hoavi, downstairs J, Ike, ReKaB, Healion, Sherelle, Sully, Chaos In The CBD, Ryabina und Directions
Willkommen zur ersten Ausgabe von »Zen Sounds«.
Ich bin Stephan Kunze. Ich arbeite seit 20 Jahren als Musik- und Kulturjournalist und habe für Zeitungen und Magazine wie taz, Spex, Juice, Musikexpress oder RBMA Daily geschrieben. Mein Interesse gilt experimenteller, elektronischer Musik und ihren Schnittstellen zu anderen Genres wie Hip-Hop, Jazz und Ambient.
Weil solche Musik im deutschsprachigen Raum kaum noch besprochen wird, stelle ich in jeder Ausgabe dieses Newsletters ab sofort aktuelle Erscheinungen vor, die mich in den letzten Wochen begeistert haben.
Obwohl es in »Zen Sounds« vor allem um elektronische Musik geht, steht der Club hier nicht im Vordergrund. In einem Interview mit Ildar Zayetdinov, dem Gründer des geschätzten Moskauer Labels Gost Zvuk, fand ich folgenden schönen Satz:
»Our focus is the brain, not the dancefloor. I love when people dance, but you can dance without even moving.«
Auf der »About«-Seite habe ich versucht, die musikalische Ausrichtung von »Zen Sounds« noch genauer zu beschreiben.
Ich bin unter info [at] stephankunze [dot] org erreichbar und freue mich über Feedback, Anregungen und Kritik.
Album der Ausgabe
Hoavi – »Invariant« (Peak Oil, 2021)
In einem Video zu einem Song des russischen Produzenten Vtgnike fliegt eine Drohne über die Moskauer Vorstadt Chertanovo. Hoavi stammt zwar aus St. Petersburg, aber beim Hören seines Debütalbums »Invariant« musste ich unweigerlich an die Bilder aus der endlosen Sowjet-Wohnblockwüste denken.
Hoavi verbindet rollende Jungle- und Footwork-Rhythmen mit schimmernden Ambient-Flächen und einem glazialen Sound-Design. Dieser Trick, darauf weist Andrew Ryce in seiner Rezension für Resident Advisor zurecht hin, erinnert an den atmosphärischen Drum’n’Bass der 1990er Jahre. Doch Hoavi erschafft auf »Invariant« eine eigene, unverwechselbare Welt. Es ist der perfekte Soundtrack, um in der herbstlichen Abenddämmerung auf dem Fahrrad durch Ostberliner Plattenbauschluchten zu rollen.
downstairs J – »Basement, etc...« (Incienso, 2021)
»basement, etc…« ist eine Empfehlung aus dem tollen Tone-Glow-Newsletter, der ich mich gern anschließe. Der New Yorker Produzent Josh Abramovici lässt hier den Illbient, ein kurzlebiges Genre aus den 1990er Jahren, wieder auferstehen. Illbient war die amerikanische Antwort auf den britischen Trip-Hop-Boom, eine zähfließende Mischung aus Dub-Basslines, düsteren Ambient-Flächen und abstrakten Hip-Hop-Beats. downstairs J findet seine Inspiration allerdings nicht nur in diesem halbvergessenen Sound aus Brooklyn, sondern ganz allgemein in der Downbeat-Musik vergangener Jahrzehnte, zwischen Mo’ Wax, Underworld und den Sofa Surfers.
Ike – »Stone Diviner« (Die Orakel, 2021)
»Stone Diviner« erschien im August auf dem Frankfurter Label Die Orakel, das von Oliver Hafenbauer, dem langjährigen Musical Director des Robert Johnson, betrieben wird. Die fünf Stücke strotzen einerseits nur so vor Referenzen an atmosphärischen 1990er-Drum’n’Bass; die typischen Rave-Signale sind zu hören, präzises Drum-Programming, wohldosierte Sub-Bass-Ausbrüche und luftige Ambient-Pads. Andererseits klang diese Art von Musik damals schon wie die Zukunft und tut es auf seltsame Weise immer noch – so gesehen ist diese EP des neuseeländischen Produzenten Ike Zwanikken kein Retro-Projekt, sondern eine Auslotung der Möglichkeiten, die sich aus dieser Soundpalette im Hier und Jetzt ergeben.
ReKaB – »Analogue Isolation« (Móatún 7, 2021)
Dass ReKaB alias James Baker nicht erst seit gestern dabei ist, hört man auf seinem Debütalbum für das isländische Móatún 7-Label deutlich: Es mangelt nicht an musikalischen Referenzen an die goldene Ära der Warp-IDM, an UK Bleep, Detroit Techno und klassischen Synthie-Pop. »Analogue Isolation« bietet Zuflucht vor der Aufmerksamkeitsökonomie: Ein Album, das losgelöst von zeitlichem, örtlichem und personellem Kontext funktioniert und das genau so 1994 hätte entstehen können wie 2004 oder 2021. Ich kann daran nichts Schlechtes finden.
Healion – »In Light, In Undoes Nothing…« (Naff, 2021)
Healion ist der Projektname, unter dem die kanadischen Produzenten Priori und Ex-Terrestrial gemeinsam Musik machen. Ihre erste EP erinnert mich – ähnlich wie auch schon Hoavi und Ike in diesem Newsletter – an den Ambient Jungle von LTJ Bukem und seinem Good-Looking-Label, speziell die frühen »Earth«-Compilations. Diese Musik erzeugt eine warme, organische Blase, in die ich mich in diesem Herbst gern zurückziehe. Sie hat für mich tatsächlich heilende Kräfte.
Sherelle – »160 Down The A406« (Sherelle, 2021)
Sherelle steht als DJ im Zentrum des Londoner Jungle-Revivals der letzten Jahre und legt hiermit ihr Debüt als Produzentin vor. Man stellt sich direkt vor, wie man dazu mit 160 Sachen die sechsspurige Stadtautobahn im Nordwesten Londons hinunterbrettert; andererseits ist die 160 natürlich auch ein Verweis auf die halsbrecherische Geschwindigkeit dieser Techno-Stücke, die mit ihren träumerischen Rave-Pads und nostalgischen Diva-Vocals auch wunderbar außerhalb des Clubs funktionieren, zum Beispiel im Nachtbus auf Noise-Canceling-Kopfhörern.
Sully – »5ives/Sliding.« (Over/Shadow, 2021)
Stichwort Jungle-Revival. Nach seiner atemberaubenden »Swandive«-EP im letzten Jahr legt Sully aus Norwich jetzt mit dieser Doppel-A-Seite auf dem Moving-Shadow-Nachfolgelabel Over/Shadow nach: Komplexe 170-bpm-Breakbeat-Wissenschaft, die nicht krampfhaft versucht, nach 1994 zu klingen und trotzdem die rohe Energie eines Warehouse-Raves transportiert. Der Photek seiner Generation.
Chaos In The CBD – »Brainstorm EP« (In Dust We Trust, 2021)
Waren die luftigen House-Tracks der neuseeländischen Brüder Ben und Louis Helliker-Hales in der Vergangenheit oft von balearischen, jazzigen Texturen durchsetzt, betreten sie inzwischen neue Räume zwischen klassischem Dub Techno und perkussivem Deep House. Ihre letzte EP »Te Puke Thunder« aus dem Frühjahr zeigte diesen neu justierten Soundentwurf bereits auf; auf der »Brainstorm EP« haben sie ihn perfektioniert. Der Soundtrack für lange Spaziergänge am Paul-Lincke-Ufer im Nieselregen.
Ryabina – »Dedicated To P« (Faktura, 2021)
Die experimentelle Szene Russlands spielt sich inzwischen primär außerhalb von Moskau ab, zum Beispiel 1.800 Kilometer weiter östlich, in Jekaterinburg am Ural: Igor Phoboz, Vadim Ronin und Andrey Shine Grooves improvisieren dort live und im Studio an Synthesizern und Effektgeräten, auf ihrer EP »Dedicated To P« für das Faktura-Label vereinen sie dubbige Electronica mit sonnigem Lo-Fi-House und meditativem Ambient. Nachdem ich »Ellipse« dank Vincent Jeneweins Besprechung im »Tone Glow«-Newsletter entdeckt hatte, bin ich inzwischen tiefer in die Kataloge der einzelnen Bandmitglieder eingestiegen. Es lohnt sich.
Re-Issue der Ausgabe
Directions – »Echoes (Anniversary Edition)« (Temporary Residence Ltd., 1997/2021)
Kieran Hebden alias Four Tet schwärmt schon lange in den höchsten Tönen von »Echoes«; das Stück habe ihm gar die komplette Blaupause für das Four-Tet-Projekt geliefert. Das macht Sinn: Ein sattes Drumbreak, schön in den Vordergrund gemischt, ein geloopter Kontrabass, hypnotische Horns, die irgendwann von einer Sitar abgelöst werden. »Echoes« ist die Schnittmenge aus Trip-Hop und Spiritual Jazz.
Das Stück wurde erstmals 1997 auf dem kleinen Londoner Label Soul Static Sound veröffentlicht. Produziert und arrangiert wurde es von Ken »Bundy« Brown, der als Gründungsmitglied von Gastr Del Sol und Tortoise zum Inventar der Chicagoer Postrock-Szene gehörte. Directions war zunächst eine richtige Band, die sogar ein Album auf Thrill Jockey veröffentlichte, doch als sie sich kurz danach auflöste, veröffentlichte Brown unter diesem Alias ein letztes Solo-Release: »Echoes«.
1997 passte »Echoes« in ein kreatives Klima zwischen Postrock, Trip-Hop und Electronica. Heute klingt es noch genau so gut wie vor 24 Jahren.
Danke fürs Lesen!
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© 2021 Stephan Kunze